… bis die Sache passiert
GRAZ / DIAGONALE
21/03/23 Irgendwann als Teenies sind May und John schon mal aufeinander gestoßen, und schon da hat den Burschen ein Geheimnis umflort. Jetzt, im Club, stoßen die beiden wieder aufeinander, und sie sie ziehen einander wie Magnete an. – Das Tier im Dschungel von Patric Chiha eröffnet heute, Dienstag (21.3.) in Graz das Fimfestival Diagonale.
Von Reinhard Kriechbaum
Im wenig attraktiven Pullover steht er da, ein regungsloser Beobachter des kunterbunten, überdrehten Tanz-Völkchens im Club. May, kein Kind der Traurigkeit und damit wohl im von ihm weit entferntesten seelischen Aggregatzustand, kostet es nicht wenig Mühe, den jungen Mann mit dem Autisten-Gehabe in ein Gespräch zu verwickeln. Was spintisiert er da vom Warten darauf, dass eine rätselhafte „Sache“ eintritt und seinem Leben Sinn, Richtung, Erfüllung gibt, oder was auch immer?
„Total asozial oder nur einsam?“, wird der Einzelgänger sich fragen lassen müssen. Jede andere junge Frau würde den Spinner einfach stehen lassen. Aber May wird hingezogen zu ihm, dem „Mann der großen, mysteriösen Worte“, wie sie es einmal formuliert. Sie hat alles, was ihm abgeht, ihm aber nicht zu fehlen scheint: Sozialkontakte, unbändige Tanzlust, Sex. Und doch wird die Seelenbeziehung zwischen den beiden über zwanzig Jahre lang dauern, von Ende der 1970er Jahre bis 2001. Was also läuft da, und worauf läuft's hinaus? Was sucht sie in ihm, und warum nimmt er sie mit auf eine ominöse Reise ins Irgendwo, die sich doch einzig auf die Samstagabende beschränkt? Diese Reise wird die beiden kaum einmal hinausführen aus dem Club, nicht einmal die paar Stufen hinauf auf die Straße. Bestenfalls auf die Dachterrasse im gleichen Haus, von wo das reale Leben unendlich weit weg scheint.
Patric Chiha, 1975 in Wien geboren, seit dem 18. Lebensjahr in Paris ansässig, kennt das Milieu, in dem er diese Nicht-Geschichte spielen lässt. Modedesign hat er studiert und Filmschnitt, und dem Tanz gilt seine besondere Liebe. Alls das fließt in Das Tier im Dschungel auf gar wundersame Weise ineinander. Wie ein Wesen von einem anderen Stern blickt John auf die Tanzfläche, scheinbar unberührt von dem sich über die Jahre fein wandelnden Club-Sound, den Moden und den Licht-Orgien. May gehört dorthin, und wird sich mit John doch jede Samstagnacht ausblenden aus dem Getriebe, ohne es wirklich zu verlassen. Raus aus dem Disco-Sound, plötzlich Wagner im Ohr, Lohengrin, Nie sollst Du mich befragen... Wie wenig zwei Menschen hundert Filmminuten lang einander verraten, wie wenig sie von sich preisgeben können!
Anaïs Demoustier und Tom Mercier sind dieses ungleiche Paar, von dem wir so wenig erfahren und das schließlich doch so viel über Sehnsüchte offenbart, die schwer dingfest, viel schwerer in Worte zu fassen und schon gar nicht in die jeweils eigene Lebenswirklichkeit überzuführen sind. Fast maskenhaft seine Mimik, umso fordernder, neugieriger, und ja: verliebt ihre Blicke. Auch eine platonische Liebe ist nicht frei von Eifersucht, Misstrauen, und in diesem speziellen Fall von Zweifeln sowieso nicht.
Ein Nukleus ist der Eingang in den Club, wo Béatrice Dalle als ältliche Türsteherin ihres Amtes waltet. Sie ist auch die Erzählerin dieser Geschichte. Ein zweiter zentraler Ort der Begegnung ist das Reich des Klo-Mannes Martin Vischer. Auch er ein weiser Menschenbeobachter, der aber kaum etwas von seiner Erfahrung preisgibt.
Das Tier im Dschungel ist ein filmisches Meisterwerk, was Musik, Licht und Schnitt anlangt. Die Spannung zwischen gestylten Tanzszenen und der behutsam-ruhigen Innenschau auf die beiden Protagonisten lässt nicht nach. Und was man wie subkutan immer wieder wahrnimmt: So ausgelassen die Stimmung auf der Tanzfläche ist, sind da doch immer einzelnen Menschen, die genau so einsam wirken wie jene beiden, die vom Rand aus auf das blicken, was möglicherweise pralles Leben, aber wohl kaum Erfüllung ist.
Die Diagonale, das Festival des Österreichischen Films in Graz, dauert bis Sonntag, 26. März – www.diagonale.at
Bilder: Diagonale / Filmgarten / Elsa Okazaki