Schiach und sexy im Hidschab
GRAZ / DIAGONALE / SONNE
05/04/22 Ein Musikvideo geht viral und damit ein Traum in Erfüllung, den die Jugendlichen eigentlich gar nicht gehabt haben. Sie hatten sich Hidschabs übergezogen, zu Losing My Religion von R.E.M. getanzt und die Playback-Performance mit Handys gefilmt... Heute Dienstag (5.4.) wird mit Sonne von Kurdwin Ayub in Graz die Diagonale eröffnet.
Von Reinhard Kriechbaum
„Ich hab mich noch nie so schiach und zugleich so sexy gefühlt“, sagt eine über das ungewohnte Kleidungsstück. Und die Frage an Yesmin, die Kurdin in der Dreiergruppe: „Wann hat deine Mutter so etwas das letzte Mal getragen?“ Was für die beiden Freundinnen vor allem Jux ist, hat für Yesmin, in Wien geborene Tochter von Kurden aus dem Irak, eine Kehrseite. Die Mutter lässt ein ordentliches Zetermordio los, wogegen der Vater für das plötzlich von so vielen angeklickte Video ein „Like“ absetzt. Überhaupt zeigt der Vater viel Verständnis für die plötzliche Prominenz der Tochter und führt sie gerne von Auftritt zu Auftritt spazieren.
Mit Sonne hat die 1990 im Irak geborene Kurdwin Ayub bei der Berlinale den Preis fürs beste Spielfilmdebüt bekommen. Heute Dienstag (5.3.) wird damit das Festival Diagonale in Graz eröffnet. Kurdwin Ayub hat auf dem Festival des österreichischen Films schon öfters auf sich aufmerksam gemacht, seit 2011 ist sie mit Musik- und Experimentalfilmen regelmäßig dabei.
Sie hat an der „Angewandten“ Malerei und experimentellen Animationsfilm studiert, dazu Performance an der Universität für angewandte Kunst Wien. Sie ist in vielen Medien zu Hause – vor allem aber ist sie daheim in der Gefühlswelt von Ihresgleichen: jungen, positiv eingestellten Menschen mit Migrationshintergrund, bestens integriert in unserer Gesellschaft und zugleich tagtäglich konfrontiert mit der Realität der in alten Werten und Erinnerungen verhafteten Familien.
Die 32jährige Kurdwin Ayub weiß, wie ihre Generation und wie die Jüngeren ticken. Sie weiß genau so gut, wie die Altvorderen denken. Und sie weiß, wie sehr es Ihresgleichen nervt, wenn sich besserwisserische europäische Filmemacher an Migrantenthemen machen. In Sonne ist vieles, eigentlich alles anders. Da wird eine Geschichte locker vom Hocker erzählt, ohne echte dramatische Zuspitzung.
Es ist, wenn man so will, ein Bündel von Alltagsgeschichten, fokussiert und gebrochen an Yesmin und ihrer kurdischen Familie. Das Hochformat des Smartphones fließt ebenso ein wie die schnellen Schnitte flüchtiger Social-Media-Storys. Zeitgemäßte Kommunikationsformen wirken wie selbstverständlich ästhetisch gebändigt und auf abendfüllendes Format zusammengefügt. Kein Flickwerk, so disparat und Kino-fern die Elemente auch sein mögen.
Gesellschaftliche Spannungen werden nicht unter den Tisch gekehrt, aber auch nicht überspitzt. Sie sind ganz normal für Yesmin, Bella und Nati, Teenager in einer Maturaklasse. Religion ist für sie sowieso kein ernsthaftes Thema mehr, bestenfalls Nostalgie. Der unvermeidliche Culture Clash ist für alle drei (auch für die Österreicherin in der Runde) gelebter und vor allem bewältigter Alltag. Der Film sei ein „Generationenstatement ohne Selbstmitleid und falsche Moral“, so die Diagonale-Leiter Sebastian Höglinger und Peter Schernhuber.
Die Diagonale in Graz dauert bis 10. April – www.diagonale.at
Bilder: www.ulrichseidl.com