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Von Damaskus in die Argentinierstraße

DIAGONALE / SIEGERFILME

25/03/19 Durchaus nicht alltäglich, dass zu Ende eines Filmfestivals, bei der Präsentation des Siegerfilms, Publikum in Scharen den Saal verlässt. Ein Misstrauensvotum gegen die Wahl der Jury, die sich für den Spielfilm Chaos von Sara Fattahi für den Großen Diagonale-Preis entschieden hat?

Von Reinhard Kriechbaum

Die seit 2010 in Wien lebende Filmemacherin Sara Fattahi wurde 1983 in Damaskus geboren. Das Chaos – das sie zum Titel ihres Films gewählt hat – trägt auch sie in sich: seelische Verwundungen durch den Krieg, mit denen die drei Protagonistinnen (eine von ihnen das Alter Ego der Regisseurin) auf je eigene Weise zurecht kommen müssen.

Fast gespensisch die Frau, die ihre Wohnung in Damaskus nicht verlässt, die in einer Art privatem Zeremoniell Tag um Tag ihrem ermordeten Sohn frische Wäsche zurecht legt und vor allem stumm trauert. Eine andere ist nach Schweden ins Exil gegangen und versucht dort als Künslerin ihre Traumata aufzuarbeiten. Aus den Stoff-Collagen und Bildern spricht „der Lebensschmerz, der mich durchbohrt“, wie sie einmal sagt. Sie erzählt auch von der bipolaren Störung, an der sie leidet. Die dritte Frau, die man ausschließlich auf ihren wegen durch Wien in Rückansicht zu Gesicht bekommt, steht für Sara Fattahi selbst. Dieser Frau hat Sara Fattahi keine eigenen Worte gegeben, sondern lässt Gedichte gegen den Krieg von Ingeborg Bachmann (und sogar diese selbst) rezitieren.

Chaos ist ein essayistischer Spielfilm mit Doku-Anmutung. Das irritiert ebenso wie die Langsamkeit. Zusammenhänge erschließen sich erst in langen Zeitabschnitten, nach Suchbewegungen der immer ganz nahe Kamera in oft abgedunkelten Räumen: Orientalisches Erzählen funktioniert auch im Bild elementar anders als im Abendland. Das hat gar nicht wenige im Publikum zum vorzeitigen Aufbruch bewegt. Ungeduld ist ein ganz schlechter Wegbegleiter für diesen Film, der „ gleichzeitig Prozess und Wahrnehmung ist“, wie die Jury schreibt.

Die Diagonale, die am Sonntag (24.3.) in Graz zu Ende gegangen ist, ist immer auch mit politischen Statements verknüpft. Auch der Siegerfilm im Doku-Bereich gilt Syrern. Nathalie Borgers, die es aus Belgien nach Wien verschlagen hat, stellt The Remains vor, die übrig Gebliebenen. Ihre Odyssee endete vor den Klippen von Lesbos, noch in Sichtweite der türkischen Küste. Ehefrauen und Kinder haben sie beim Untergang eines Schlepperbootes verloren. Szenen von der Familien-Zusammenführung, die nur leidlich klappt, eindrückliche Blicke in die Gesichter, aus denen das Weiterleben-Müssen spricht: „Der Film schildert eindrücklich und kinematographisch überzeugend den Schmerz einer Familie vor dem Hintergrund einer der größten humanitären Katastrophen der Gegenwart“, so die Jury. „Die Regisseurin lässt uns ganz nah an eine Flüchtlingsfamilie herankommen und vermittelt uns deren schier unfassbaren Schmerz.“ Aber das Leben geht weiter, und Nathalie Borgers hat auf der griechischen Insel Lesbos auch Leute ausfindig gemacht, die ganz gut leben von den Flüchtlingen und dem, was von ihnen auf der Insel übrig bleibt.

Die beiden Diagonale-Hauptpreise sind mit je 21.000 Euro dotiert. Je 3.000 Euro gab es für die Schauspielpreise. Diese gingen an Joy Alphonsus für Joy, einen Film von Sudabeh Mortezai über nigerianische Sexarbeiterinnen, sowie an Simon Frühwirth für Nevrland, ein in faszinierenden Bildwelten erdachtes Coming-of-Age-Drama von Gregor Schmidinger. Die Jugendjury hat sich für Zufall & Notwendigkeit von Nicolas Pindeus als besten Nachwuchsfilm ausgesprochen.

Die Jurys haben in Graz nicht allein das Sagen. Der Publikumspreis ging an Gehört.Gesehen von Jakob Brossmann und David Paede. Über Jahre waren die beiden Dokumentarfilmer im Funkhaus in der Argentinierstraße zugange. Sie waren Zaungäste bei strategischen Sitzungen auf Leitungs- und Abteilungsebene, haben Sendungsgestalter bei ihrer Arbeit und den „Betrieb“ im Funkhaus beobachtet. Wir erleben Christian Muthspiel bei der Produktion der neuen Signations zum 50-Jahre-Jubiläum des Senders. Der Film bringt nahe, wie verantwortungsvoll und umfassend der Kultursender Ö1 – beispielhaft für den heutzutage von vielen mit Misstrauen beäugten „Staatsfunk“ – seinem Informations-, Kulturvermittlungs- und Bildungsauftrag nachgeht. Wie gefährdet diese Arbeit in Zeiten ist, da Populisten offen zum Kampf gegen solche für die Demokratie unverzichtbaren Institutionen ist, wird deutlich. Sie ist auch beim Publikum angekommen, das dem Vernehmen nach mit überwältigender Mehrheit für Gehört.Gesehen votiert hat.

Die feine Ironie im Schnitt lässt immer wieder auch schmunzeln: Da folgt auf eine Interviewszene mit Strache eine exaltierte Hörspiel-Aufnahme. Und auf die Vorbereitungen zu einer kritischen Sendung über den Stop der ORF-Gebühren folgt unmittelbar ein Interview mit einm Moosforscher: Über die Zukunft des Mooses will der lieber nichts sagen. Ja, es sei dauerhaft und hartnäckig, aber der Mensch hat schon so manches Biotop ruiniert...

Die nächste Diagonale findet von 17. bis 22. März 2020 statt – www.diagonale.at
Bilder: Diagonale (2); Navigator (1); Geyrhalterfilm (1)
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