Mais für die Möwe
UNIVERSITÄT MOZARTEUM / DIE MÖWE
15/12/17 Viel Text ist nicht übrig geblieben, nicht einmal der Name der männlichen Hauptfigur hat Gnade gefunden. Dafür ist beklemmend viel Čechov „herausgekommen“ bei der Produktion „Die Möwe“ im Theater im KunstQuartier in der Diplominszenierung von Asaf Hameíri.
Von Heidemarie Klabacher
Gespielt wird eine Art Kürzest-Textfassung in der Übersetzung von Angela Schanelec im Bühnenbild von Ran Chai Bar-zvi. Im Stück ist viel die Rede vom See. Eine Art Sumpf mit Bade-Steg im Hintergrund vermittelt klug die Assoziation zum unsicheren Boden, auf dem die Protagonisten ihr Leben zu führen versuchen. Dass statt Schilf und Binsen vertrocknete Kukuruz-Stauden verwendet werden, ist schrullig, aber OK: Die Bilder sind eindrücklich.
Eindrücklich, wie die ganze Produktion, die – inklusive zwanzigminütiger Verspätung beim Start – nur wenig länger als eine Stunde dauert. Und da haben Schuberts „Fremd bin ich eingezogen“ und weitere, hervorragend verfremdete Musiknummern, auch noch Platz gefunden und durchaus einen sinnfälligen Beitrag geleistet zur verstörend beklemmenden Atmosphäre der Ausweglosigkeit.
„Niederdrückend, melancholisch und unendlich monoton… Eine Atmosphäre, die so völlig mit der vorherrschenden Stimmung der gebildeten Klassen des damaligen Rußland übereinzustimmen schien, daß man sie in England und Amerika als typisch für jedes Drama Čechovs akzeptierte und sogar das Eigenschaftswort ‚chekovian‘ dafür prägte“, wie ein maßgeblicher Kritiker seinerzeit sagte.
Die Mutter des verzweifelt um „Er-Neuerung“ überkommener Theaterformen ringenden Dichters ist eine Schauspielerin vom alten Schlag, ihr derzeitiger Geliebter ein Erfolgsautor, der aus Langeweile das Mädchen ruiniert, in das der junge Dichter verliebt ist - und das fatalerweise Schauspielerin werden will. Aus dem schier unerschöpflichen Pool an Deutungs-Möglichkeiten, die in diesem genialen Setting schlummern, hat sich die Diplominszenierung von Asaf Hameíri auf den Aspekt der Fragen um die Funktion des Theaters „an sich“ konzentriert.
Wie zeitlos aktuell Čechovs Fragen an das Theater schon 1896 waren, wird in dieser durchaus radikal mit dem Text verfahrenden Produktion aufregend deutlich. „Neue Formen brauchen wir, neue Formen!“ Geradezu greifbar macht Asaf Hameíri, dass das ach so moderne Gegenwarts-Theater noch immer an genau den gleichen Fragen kiefelt. Da scheint eine gehörige Portion Fähigkeit zur Selbstironie vorhanden zu sein. Und die ist nun wahrlich selten auf dem „heutigen“ Theater.
Die zweite Ebene, die Tragödie um die junge Nina, ist ebenfalls klar herausgearbeitet. Niemand könnte sie besser zusammenfassen als Čechov selber mit den Worten, die er dem Erfolgsautor Trigorin in den Mund legt, als dieser im Schilf die junge Frau erblickt: „Es lebt ein Mädchen an einem See. Es liebt den See wie eine Möwe, und wie eine Möwe ist es frei und glücklich. Da kommt eines Tages ein Mann daher, sieht das Mädchen und richtet es zugrunde, bloß so, aus Langeweile…“
Die zentralen Rollen im Theater im KunstQuartier spielen Lili Epply, Johanna Meinhard, Valentina Schüler, Erik Born, Elias Füchsle und Gustav Schmidt. Die stimmige Musik ist von „Borgolte und die Kolben“. Ob damit die im Sumpf herumliegenden Mais-Kolben gemeint sind? Zeitgenössisches Theater ist offensichtlich doch komplexer, als Čechov sich einst vorstellen konnte. Gratulation jedenfalls.