Das Liebesopfer aus dem Eis
LANDESTHEATER / ANTHROPOZÄN
27/05/24 Anthropozän – das ist unser, also der Menschen Erdzeitalter. Nicht unbedingt zu ihrem Gunsten. Und so heißt die Oper von dem 1976 geborenen schottischen Komponisten Stuart MacRae. Anthropozän ist 2019 an der Scottish Opera uraufgeführt worden und begeistert jetzt auch das Publikum im Salzburger Landestheater.
Von Erhard Petzel
Der kalte Rand der Erde hat Erzähltraditionen entwickelt zum Forscherdrang des Menschen und dessen moralischer Konfrontation mit mythischer Welterfassung. Der österreichische Schriftsteller Guido von List, Vertreter der völkischen Bewegung, imaginierte eine arische Rasse, die vom hohen Norden her die Welt kultiviert habe. Ein Forschungsschiff bildet den Rahmen für Mary Shelleys Roman Frankenstein, der dort am Nordpol auf sein Monster trifft und mit ihm zugrunde geht. Bezüge dazu finden sich auch im Libretto von Louise Welsh aus ihrem Roman Anthropozän. Das ist der sprechende Name eines Forschungsschiffes im Norden Grönlands, das der Oper von Stuart MacRae den Namen gegeben hat.
Zu Beginn der Oper wartet man auf drei Expeditionsmitglieder. Die Zeit drängt, die Temperatur sinkt in rasendem Tempo und das Schiff muss los, soll es nicht im Eis stecken bleiben. Captain Ross (Tristan Hambleton) drängt und sieht schwarz, kann sich aber nicht durchsetzen. Denn Charles Prentice (George Humphreys), auf der Suche nach alten Mikroben aus dem tauenden Eis, hat einen Sensationsfund geborgen. Bis er an Bord ist, ist es zu spät.
Ein in Eisblöcken eingeschlossener Mensch wird an Deck gehievt. Während die wissenschaftliche Euphorie keine Grenzen kennt, sind die Seeleute skeptisch.
Beim Versuch des Matrosen Vasco (Luke Sinclair), den Fund wieder los zu werden, rattert im Handgemenge der Eisklotz aufs Deck. Aus den zerborstenen Trümmern rappelt sich eine Frauengestalt allmählich heraus. Ice (Anita Giovanna Rosati) wird sich später daran erinnern, von ihrer Familie in alter Zeit geopfert worden zu sein. Sie habe im Eis bis zu diesem Zeitpunkt überdauert, da sie aufgefunden und zum Schiff gebracht wurde. Dass man sie geopfert hat, war verantwortlich für die folgende Vereisung – ein märchenhafter Bezug auf die Besiedlungsgeschichte Grönlands. Das bringt den Wissenschafter Charles auf folgende Idee: Wenn sie sich für die Menschheit opferten und in ihrem Schiffs-Gefängnis verharrten, würden die Pole wieder zufrieren und das Gleichgewicht wäre wieder gerettet. Solche Opferbereitschaft teilt aber niemand.
Das Blut eines Opfers bringe das Eis zum schmelzen. Prof. Prentice (Meredith Hoffmann-Thomson), Expeditionsleiterin und Charles’ Frau, erschießt den Journalisten Miles (Samuel Pantcheff). Der ist an seinem Schicksal nicht ganz unschuldig, hat er doch für eine Sensationsstory ein Teil des Funksystems entwendet, sodass die festsitzende Crew keine Hilfe ordern konnte. Vasco, der ihn damit erwischt hatte, wurde von ihm umgebracht. Doch dieses Gewaltopfer steht im Gegensatz zum einstigen Liebesopfer in der Familie von Ice, worauf die sich zurückzieht und mit diesem brutalen und eigensüchtigen Stamm der heutigen Menschen nichts zu tun haben will. Die Rettung naht zwar, die Aussichten sind aber verdüstert. Vom Schiffseigner Harry King (William Ferguson) bis zu seiner Tochter Daisy (Katie Coventry) haben alle nur ihre eigene egoistische Agenda im Blick, wenn die Frauen auch etwas besser abschneiden.
Prof. Prentice bemüht sich um die Kommunikation mit Ice in einem wunderbaren Frauen-Duett. Farbige Ensembles bilden zu dramatisch dichten Szenen eine dramaturgisch lebendige und raffinierte Klanglandschaft, die Leslie Suganandarajah mit dem Mozarteumorchester süffig bis fein ziseliert aus der instrumentalen Palette zaubert.
Die Musik trägt Empfindung und Eindruck. Herztöne sind zu hören wie Schiffsmotoren, abgründige Tiefen kontrastieren mit hellen Klangtupfern, Furor ist nicht Chaos, Wiederholungen im Scherz sind in ihrer Struktur barock; selbst Rezitative folgen (nicht allein beim Namen Miles denkt man an Brittens The Turn of the Screw, wenngleich der Klangcharakter von MacRaes Musik weitaus dissonanter ist). Die herrlichen Stimmen tragen und kämpfen sich durch die Kraft des Orchesters. Vom makellosen Sopran Rosatis zu schwärmen soll nicht heißen, die berauschende Leistung der anderen zu schmälern.
Volker Thieles beeindruckendes Bühnenbild zeigt einen Teil Schiffsdeck mit Mast, Gaze ermöglicht wundervolle Projektionen und Durchsicht auf bespielte Schiffsräume, mit tollen Licht-Effekten von Micha Vorreiter. Ein höchst beeindruckender Abend in der klaren Inszenierung Agnessa Nefjodovs als bei der Premiere am Sonntag (26.5.) umjubelter Triumph zeitgenössischer Oper.