Tanz der tausend Seiten
LANDESTHEATER / ANNA KARENINA
10/05/27 Tausend Seiten. Acht Teile. Die komplex gewobene Geschichte gleich dreier russischer Adelsfamilien gefangen in der rigiden Moral des ausgehenden 19. Jahrhunderts: Das ist Leo Tolstois Roman Anna Karenina. Keine kleine Sache, das Ganze ohne ein Wort zu erzählen – sprich, daraus ein Ballett zu machen.
Von Heidemarie Klabacher
Als – hoffentlich – letzte Streaming-Premiere ging am Freitag (7.5.) die Uraufführung des Balletts Anna Karenina von Reginaldo Oliveira nach dem Roman von Lew Tolstoi im Landestheater über die Bühne. Vom ersten Moment an fasziniert die Musik, die in den folgenden – immerhin eindreiviertel - Stunden eine der Hauptdarstellerin der Produktion sein wird. Maurice Ravels La Valse, das Regentropfen-Prélude von Chopin und mehrere Préludes von Lera Auerbach. Alfred Schnittkes Filmmusik Agonie und von Dimitri Schostakowitsch das Trompetenkonzert und der zweite Satz aus der Zehnten: Wenn auch vom Band, erzählt allein diese Musikauswahl eine ausgewachsene Tragödie, spiegelt grandios die sich steigernde Dramatik des Handlungsballettes. Denn es dauert – bei aller Virtuosität der Tänzerinnen und Tänzer vom ersten Augenblick an – durchaus einige Zeit, bis die Produktion auf dem Bildschirm tatsächlich zu packen beginnt. Das wird in der analogen Form vermutlich ganz anders sein, wenn das hervorragende Ensemble wirklich „greifbar“ ist. Aber auch für den Stream der Choreographie Reginaldo Oliveira eine stringente emotionale, tänzerische und musikalische Crescendo-Studie geschaffen.
Der Tausend-Seiten-Roman erzählt die Geschichte des Fürsten Oblonski und seiner Frau Dolly, deren Schwester Kitty – und vor allem die Geschichte vom Untergang Anna Kareninas, der Schwester des Fürsten, die mit dem Beamten Alexej Karenin verheiratet ist und die nach der ruchbar gewordenen Affäre mit dem Grafen Alexej Wronskij zunächst ins gesellschaftliche Out dann in den Selbstmord führt. Wie immer, hat die Frau die Rechnung zu bezahlen.
So knapp wie erhellend legt das Programmheft in wenigen Absätzen die historischen Hintergründe einer Umbruchszeit dar: „Die 'Frauenfrage' war ein Diskussionsthema, das die russische Gesellschaft bewegte. Neben der rechtlichen Stellung der Frau und ihrer Bildung ging es vor allem um die Scheidung. Zivile Scheidungsgesetze gab es nicht, die Auflösung einer Ehe lag allein bei der Kirche, und diese ging streng vor – der Prozentsatz legal aufgelöster Ehen lag im Promille-bereich. Zugleich war der gesellschaftliche Zwang zur Eheschließung groß, auf unverheiratete Frauen wurde herabgeblickt und 'wilde'“ Ehen offiziell geächtet. Die daraus entstehenden unglücklichen Familienverhältnisse trieben immer häufiger Frauen in den Selbstmord. Auch in der Nachbarschaft der Tolstois kam es zu einem solchen Fall. Als die Haushälterin und Bettgefährtin eines Witwers ihren Platz räumen sollte, da der Gutsherr die Gouvernante seines Sohnes heiraten wollte, stürzte sie sich in einer Bahnstation unter einen Güterzug. Tolstoi, immer auf der Suche nach konkreter Anschauung, ließ sich die sezierte Leiche zeigen.“
Harriet Mills in der Titelrolle als Anna Karenina, Flavio Salamanka als deren Ehemann Karenin und Niccolò Masini als deren Sohn Serjoscha. Iure de Castro als Annas Bruder Stiwa und Chigusa Fujiyoshi als dessen Frau Dolly. Diego da Cunha als Gutsbesitzer Lewin, Larissa Mota als Kitty und Klevis Neza in der Schlüsselrolle des Offiziers Wronski: Das Ballettensemble des Landestheaters begeistert in der szenischen Konzeption und Choreographie von Reginaldo Oliveira im elegant stilisierten Bühnenbild von Sebastian Hannak.