Von Reiser bis Besinnungs-Pop
CD-KRITIK / ADVENTSINGEN
11/12/20 Auch in einem „normalen“ Jahr wäre der High-noon in Sachen Adventsingen in den letzten Tagen vor Weihnachten vorbei. Heuer ging gar nichts. Musikalischen Denkstoff bieten zwei sehr verschiedene neue CDs - vom Salzburger Hirtenadvent und vom Salzburger Advent.
Von Reinhard Kriechbaum
Auf die Gefahr hin, als Nestbeschmutzer eingestuft zu werden: Konzertante Adventsingen sind gar keine Salzburger Erfindung, so sehr man hier Tobi Reiser in Ehren hält. Drei Jahrzehnte zuvor, 1916 (also mitten im Ersten Weltkrieg) erklangen zum ersten Mal in der Grazer Antoniuskirche Alte Hirten und Krippenlieder. Das war die Urmutter aller Adventsingen, ins Leben gerufen von zwei honorigen Leuten: vom Volkskundler Viktor Geramb und dem Volksliedsammler und -forscher Viktor Zack. Ganz wesentlich dabei: Das Unternehmen hatte keineswegs romantisierende, weihnachts-sentimentale Zielsetzungen. Viktor Zack, eher Musikpädagoge als Stil-Purist, setzte dezidiert auf kunsthafte Volksliedbearbeitungen. Schließlich wollte er die Volkslieder einem bürgerlichen Publikum nahe bringen, wählte also musikalische Idiome, die diesen Ohren vertraut waren.
Das muss man sich vergegenwärtigen, wenn man jetzt beispielsweise in die neue CD vom Salzburger HirtenAdvent (dem in der Großen Aula beheimateten Adventsingen) hinein hört. Diese ist dem hundertsten Geburtstag von Wilhelm Keller (1920-2008) gewidmet – jenem Kopmponisten, der musikalisch ganz maßgeblich die Entwicklung des Tobi Reiser'schen Adventsingens zum „szenischen Oratorium“ mitbestimmt hat. Keller war ein Apostel von Carl Orff und ein großer Stilist obendrein. Die kraftvoll-herbe Direktheit seiner Liedkantaten erwies sich als tragfähig, es gibt aber auch manch Lyrisches aus seiner Feder. Kellers Sensorium beim Lied-Setzen, sein Sinn für Balance, wenn es um Vor-und Zwischenspiele ging: Das war durchaus Schule bildend.
Auf der CD des HirtenAdvents fehlen natürlich auch nicht Stücke von Tobias Reiser. Auch da muss man erinnern: Er war es, der das Hackbrett erst hinein gebracht hat in die Salzburger Volksmusik. So wie manche Liedschöpfungen von Reiser sich als „Volkslieder“ durchgesetzt haben, ist diese spezifische Saitenmusik mit Hackbrett, Gitarre, Zither, Harfe längst für die heimishe Volksmusik typisch geworden. Es hat sich also ein musikalisches Idiom flächendeckend so verbreitet, dass es längst als authentisch wahrgenommen wird. Für das Weitertragen dieses die heimische Volksmusik nachhaltig prägenden Stils sind die Ensembles unter der Obhut von Sepp Radauer goldrichtig. Es wurde viel verjüngt oder ersetzt (Salzburger Dreigensang, Ruperti Viergesang...). Dien eue CD hat durchaus den Rang eines Zeitzeugnisses. Und Julia Gschnitzer als Lesende von Waggerl-Texten: Das ist eine Kategorie für sich.
Nicht nur die Reiser'schen Lord-Siegel-Bewahrer werden mit Fug und Recht den Kopf schütteln, wen sie eine CD wie jene vom Salzburger Advent in die Hände bekommen. Auch dorthin, in die Andräkirche am Mirabellplatz, pilgern in normalen Jahren Abend für Abend die Hundertschaften. Es ist eine völlig andere Kundschaft als jene der beiden Reiser-nahen Adventsingen im Festspielbezirk.
Das ® bekräftigt: Wir haben es beim Salzburger Advent mit einer Trademark zu tun. Andere Hörer, andere Erwartungen, die allerdings – und das muss man auch sagen – mit derselben Ernstaftigkeit eingelöst werden, wie von den Hirten-Adventlern auf der anderen Salzachseite. Wenn der Kunde König ist, hat er auch Anspruch drauf. Natürlich keine Spur von „autochthoner“ Volksmusik (was immer das sein könnte), sondern Bearbeitungen sonder Zahl. So wie vorüber hundert Jahren in Graz Geramb und Zack den Ohren eines (bildungs)-bürgerlichen Publikums zugearbeitet haben, sind für den Salzburger Advent Profis und ambitionierte Laienmusiker am Werk, um die Erwartungshaltungen zu hundert Prozent einlösen. Diese Erwartungen sind durchaus diffus, reichen von Sehnsucht nach Weihnachts-Idylle bis zum Musikantenstadl. Deshalb also ein durchaus kühner Stil-Mix. Die Stimme von Alexandra Bauer: eine Folk-Volks-Pop-Röhre, die man erst finden muss. Und die Blechbläser-Einleitung auf dieser CD könnte man sogar als eine vorsichtige Huldigung an Wilhelm Keller verstehen.