Casanova und andere Leidenschaftler
DIALOGE / THE DISCOVERY OF PASSION
25/11/19 Wundern würde sich mancher Musikfreund, nicht so vertraut mit Musik aus dem frühen 17. Jahrhundert, wie wenig Noten da eigentlich auf dem Papier stehen. Es sind höchstens halb so viele, wie die Blockflötistin Dorothee Oberlinger und ihr Geigen-Kollege Dmitry Sinkovsky – beide auf den Fährten nach der Leidenschaft in der Musik – hören lassen.
Von Reinhard Kriechbaum
Das ist gut und richtig so, denn in dieser Ära stand der eigenschöpferische Beitrag der Interpreten hoch im Kurs: Deren Kunst ging ja weit über das Ausschmücken mit Trillern oder dergleichen hinaus. Mit dem Fachausdruck Diminution bezeichnet man verzierende Eingriffe in den Notentext, wie er in Renaissance und Barock absolut üblich war. Nicht nur lange Noten wurden in melodisches Rankenwerk zerlegt. Solches setzten damals Komponisten wie Zuhörer voraus.
Jacob van Eyck im niederländischen Utrecht, Salomone Rossi in Mantua, Dario Castello in Venedig, Giovanni Battista Fontana in Rom und Padua, Tarquinio Merula in Warschau (!), später in Cremona und Bergamo – sie alle waren Zeitgenossen des Opern-Erfinders Claudio Monteverdi. In ihren Instrumentalwerken haben sie die Musik sprechen lassen, als ob Sänger am Werk wären. In den Jahrzehnten nach 1600 wurde jene Rhetorik entwickelt, die über zwei Jahrhunderte die Sprache der Musik schlechthin ausmachte – und die Interpreten waren gefordert, diese Ausdrucks-Vokabel durch ihr kreatives Zutun zu verstärken.
Genau das ist der Reiz des Programms The discovery of passion, für das sich Dorothee Oberlinger immens sachkundige Mitstreiter (den Lautenisten Luca Bianca, den Cellisten Marco Testori und den Cembalisten Peter Kofler) erwählte. Verblüffend, wie diese Musik ins Swingen kommt, welche rhythmischen Freizügigkeiten möglich sind, wie dann doch alles „just in time“ auf den Punkt kommt und wo nötig auf den tänzerischen Impuls hin getrimmt ist. Da kann es einem als Hörer schon den Atem verschlagen. Dorothee Oberlingers Fingerläufigkeit ist ein eigenes Kapitel, aber nur eine Komponente in diesem gestalterischen Miteinander, wo jeder in der fünfköpfigen Gruppe hellwach agiert, technisch firm und stilistisch eingefuchst seine unverzichtbare Rolle einnimmt.
Der russische Geiger Dmitry Sinkovsky ist ein Glückksfall, weil er aus der Geigenschule seines Landes eine stupende Technik mitbringt, die er mit gediegenem aufführungsprktischen Wissen paart. Und Sinkovsky ist auch als Sänger ausgebildet – als Countertenor ist er vielleicht sogar noch besser.
Für ihn und Dorothee Oberlinger hat Simone Fontanelli, „Lecturer in New Music“ an der Universität Mozarteum, das mitreißende polyglotte Stück Je commence par declarer geschrieben. Da sind der Geiger und die Blockflötistin auch singend und deklamierend gefordert. Casanova ist der Texte-Lieferant.
In dem vielfältigen Programm, bei den Dialogen der Stiftung am frühen Sonntagabend (24.11.) im Großen Saal des Mozarteums vor gar nicht wenig Publikum offeriert, hatten alle auch ihr Pensum an zweitgenössischer Musik. Der Cembalist beispielsweise eine synkopisch fintenreiche Toccata von Harald Feller. Luca Pianca hat sich selbst motorisch kräftige Circles auf die Lautensaiten geschrieben. Luciano Berios Gesti sind ein Klassiker. Aber wenn Dorothee Oberlinger sich diesem Zwitterwesen aus gustiöser Flöten-Motorik und raffiniert damit verbundenem Vokalklang widmet, gleichsam voll darin aufgeht, dann ist's so, als ob man es zum ersten Mal erlebte.