Ein Mensch am Abgrund
REST DER WELT / WIENER FESTWOCHEN / WOZZECK
Aus Anlass seines 125. Geburtstags und 75. Todestages widmen die Wiener Festwochen Alban Berg heuer ihren musikalischen Schwerpunkt mit der Aufführung seiner beiden Musiktheaterwerke „Wozzeck“ und „Lulu“ und einem eigenen Konzertzyklus im Konzerthaus und im Arnold Schönberg Center.
Von Oliver Schneider
Eröffnet wurde das Gedenkprogramm am Samstag (15.5.) im Theater an der Wien mit der Eigenproduktion von „Wozzeck“. Regisseur und Ausstatter Stéphane Braunschweig, dem zuletzt in Salzburg und Aix-en-Provence mit seinem „Ring“ nur bedingt Glück beschieden war, konzentriert sich auf den von der Gesellschaft ausgenutzten, neurotischen Menschen Wozzeck, dessen Schicksal schon beim Rasieren des Hauptmanns vorgezeichnet ist. Zwischen Apathie und jähzornigen Ausbrüchen schwankend ist es nicht zuletzt auch der Irrsinn seiner Mitmenschen, der ihn bis zum Äußersten, dem Mord an Marie, treibt.
Marie ist die einzige Person, die die Ausweglosigkeit Wozzecks und der eigenen Situation von Anfang an erkennt. Braunschweig zieht in einem kurzen Beitrag zur Inszenierung im Programmheft die Bibel als Schlüssel zur Deutung der ersten Zwölftonoper heran, weshalb Marie und ihr kleiner unehelicher Sohn bereits in der ersten Szene vorne links auf der Bühne sitzend präsent sind und gemeinsam mit Wozzeck zu einer Art heiliger Familie werden. Wenn das Kind nach dem Tod der Eltern schließlich alleine zurückbleibt, zerbricht diese Familie. Das Kind mit seinem Holzpferdchen erwartet dasselbe Schicksal wie seinen Vater, der Wahnsinn.
Bei Braunschweig ist „Wozzeck“ ein personenzentriertes Kammerspiel, das fast ohne Requisiten in einem schwarzen Raum spielt. Nur auf den roten Mond und die untergehende, rote Sonne als Zeichen für das Blut verzichtet er nicht. Eindrücklich ist der Moment, wenn Wozzeck die Ohrringe, ein Geschenk des Tambourmajors an Marie, entdeckt. Die geöffneten Wände der Rückwand, zwischen denen sich die explosive Stimmung zwischen Marie und Wozzeck erstmalig entlädt, symbolisieren das unabwendbar drohende Schicksal Maries und Wozzecks.
Anders als zuletzt Andreas Kriegenburg in München oder Christoph Marthaler beschränkt sich Braunschweig leider ausschließlich aufs Nacherzählen. Mögliche Zeitbezüge werden ausgeblendet, auf Erklärungsversuche verzichtet Braunschweig ohnehin. Das ist für eine Festspielproduktion zu wenig.
Vorteil von Braunschweigs Regiekonzept ist, dass es Raum für die Sänger lässt, die sich darstellerisch und musikalisch restlos entfalten können. Dem Wiener Georg Nigl gelingt ein unter die Haut gehendes Porträt des Untermenschen Wozzeck. Dieser Wozzeck mag irrsinnig sein, aber Momente, in denen in seinem apathischen Blick Geisteshelle aufblitzt, nutzt er, um sein Ende und jenes von Marie gezielt zu planen. Mal wirkt er sanft wie ein Lamm, dann gewinnt die Kraft des Wahnsinnigen in ihm wieder die Übermacht, so wenn er nach dem Mord an Marie im Wirtshaus die Nähe zu Margret sucht (Magdalena Anna Hofmann mit durchschlagskräftiger Stimme). Noch eindrücklicher als in Paris stattet Angela Denoke die von Schuldgefühlen geplagte Marie mit leuchtenden, expressiven Vokalfarben aus. In dieser Partie ist sie zurzeit wohl unerreicht.
Die kleineren, aber genauso wichtigen Partien haben die Festwochen mit ebenso viel Sorgfalt besetzt: Volker Vogel als aufgeplusterter Tambourmajor trumpft vor allem stimmlich auf, Heinz Zednik setzt auch in der kleinen Rolle des Narr nachhaltig in Erinnerung bleibende Akzente. Wolfgang Bankl als experimentierender Doktor und Andreas Conrad als Hauptmann stehen für das verrückte Umfeld, in dem Wozzeck lebt.
Radikaler als Braunschweig auf der Bühne nähert sich Daniel Harding mit dem durchgängig transparent spielenden Mahler Chamber Orchestra Bergs Musik, betont das unerhört Neue und setzt auf Schärfen. Er baut eine ungemeine dramatische Spannung in den knapp hundert Minuten auf, die nur in den Zwischenspielen mit ihrer spätromantischen Verwurzelung oder Maries Wiegenlied ein kurzes Aufatmen vor dem grausamen Ende erlauben.