Undercover einem Psychopathen auf der Spur
MÜNCHEN / BAYERISCHE STAATSOPER / JUDITH
04/02/20 Die Bayerische Staatsoper kombiniert in ihrer jüngsten Premiere Bartóks Einakter Herzog Blaubarts Burg mit seinem Konzert für Orchester zu Judith. Katie Mitchell kehrt die Perspektive radikal um und erzählt, wie Judith Blaubarts Opfer befreit. Jubel nach der Premiere für alle Protagonisten und das fantastische Staatsorchester unter Oksana Lyniv.
Von Oliver Schneider
Drei junge Frauen, die alle für einen Escort-Service gearbeitet haben, sind in London auf mysteriöse Weise verschwunden. Anna Barlow, die als verdeckte Ermittlerin bei der Kriminalpolizei arbeitet, ist ihnen auf der Spur. Die Verbindung zwischen ihnen: Alle drei trugen ein Kreuz als Schmuckstück und wurden von einem minutiös gepflegten, schwarzen Mercedes eines Herrn Blaubart abgeholt. Deshalb macht sich Anna zu „Rippa“ und lässt sich bei der von Blaubart bevorzugten Escort-Agentur registrieren. Prompt wird sie an einem Abend eingeladen und vom bekannten Mercedes mit Chauffeur abgeholt. Doch einiges läuft von Beginn an anders, denn Rippa trinkt nicht aus der gereichten Flasche, die der Chauffeur zuvor mit K.-o.-Tropfen angereichert hat. Rippa wird von ihrem Gastgeber bei vollem Bewusstsein abgeholt. Hier erst setzt die Oper ein. Die Vorgeschichte erzählt uns Grant Gree in einem spannenden Film zu Béla Bartóks Konzert für Orchester.
Filmstreifenartig sind auch Blaubarts sieben Zimmer hintereinander angeordnet (Bühne: Alex Eales), die die Polizistin Anna alias Rippa alias Judith eines nach dem anderen öffnet. Zunächst geht es in einen Operationssaal-ähnlichen Sezierraum, in dem Anna unbemerkt ein Beweisstück mitgehen lässt. Dann in die mit Gewehren und Pistolen angefüllte Waffenkammer. Blaubart steckt sich eine Pistole ein. Hat er die Ermittlerin schon enttarnt? Die Schatzkammer birgt einen riesigen Safe mit dem Schmuck der gefangenen Frauen. Längst weiss Anna, dass sie es mit einem Psychopathen zu tun hat, der säuberlich jede Spur zu verwischen trachtet und deshalb in jeder Kammer nach ihrem Verlassen das Licht löscht, bevor er die Räume wieder abschließt. Ein Zurück soll es für Anna nicht geben.
Nach dem Wintergarten gelangen sie zu gar nicht strahlend klingendem, sondern eher bedrohlichem C-Dur in Blaubarts Kommandozentrale. Mit der 3D-Brille fliegt Anna über seine Ländereien. Der Tränensee, die vorletzte Kammer, ist schließlich ein schäbiger Duschraum, in dem die Mäntel von „Rippas“ Vorgängerinnen hängen. Während sich Blaubart und sein vermeintliches nächstes Opfer küssen, schafft es Anna, ihm die Pistole aus der Jackentasche zu entwenden. Sie zwingt ihn nun, die letzte Tür zu öffnen, in dem die Frauen vor großen Kreuzen an der Wand gefesselt kauern. Anna gelingt es, die Frauen zu befreien, während sie Blaubart mit zwei Schüssen tötet.
Regisseurin Katie Mitchell und ihr Regieteam kehren die nicht nur bei Bartók und seinem Librettisten Béla Balász dominierende männliche Machtbrille der Blaubart-Geschichte kongenial um, ohne dem Werk und der Musik Gewalt anzutu. Sie machen Anna zu einer triumphierenden Siegerin. Die Kombination mit der plausiblen filmischen Vorgeschichte zu dem im amerikanischen Exil, fast dreißig Jahre später entstandenen Konzert für Orchester, in dem Bartók durch die beiden Harfen und Holzbläser das Öffnen der sechsten Tür zum Tränensee zitiert, stellt die Handlung des Einakters in einen stimmigen Gesamtkontext. Die Lösung ist so überzeugend, dass man sich fragt, warum man erst jetzt auf diese Idee gekommen ist.
Der Abend steht und fällt auch mit den beiden Protagonisten. Nina Stemme gibt nicht nur stimmlich eine überragende dramatische Anna/Judith, sondern beweist schon als zielstrebige Ermittlerin im Film große schauspielerische Qualitäten. Zielstrebig will sie Blaubart vom ersten Moment an entlarven. Und als Zuschauer fiebert man bis zum erlösenden zweiten Schuss mit, ob ihr die Befreiung der drei Frauen gelingt. Dass bei dieser starken Fokussierung Blaubart nicht in den Hintergrund gerät, ist dem ebenso fulminant-großvolumigen John Lundgren zu verdanken. Anders als in anderen Blaubart-Aufführungen mag man aber mit diesem Mann kein Mitleid haben, nachdem man den 40-minütigen Film von Grant Gree gesehen hat.
Dass über den Abend musikalisch ein langer Bogen gespannt ist, ist Oksana Lyniv zu verdanken, die vor ihrer Zeit als Chefdirigentin der Oper Graz Assistentin von Kirill Petrenko in München war und somit bestens mit den Musikerinnen und Musikern des Bayerischen Staatsorchesters vertraut ist. Passend zum Opern-Thriller erzeugt sie mit dem Orchester eine prickelnde, aufgeladene Spannung mit einem klaren, an Petrenko erinnernden Klangbild. Dynamische Kontraste und Schärfen sind plastisch herausgearbeitet. Eine Produktion, die man erlebt haben sollte.