Ausbruch aus dem Teufelskreis
ZÜRICH / IPHIGÉNIE EN TAURIDE
11/02/20 Andreas Homoki inszeniert Glucks Iphigénie en Tauride im Opernhaus Zürich als Familientragödie, mit Cecilia Bartoli in der Titelrolle. Gianluca Capuano atmet am Pult der Orchestra La Scintilla mit den Protagonisten. Einhelliger Jubel für alle Beteiligten.
Von Oliver Schneider
2015 gestaltete Cecilia Bartoli ihre erste Iphigénie in Christoph Willibald Glucks Iphigénie en Tauride bei den Salzburger Pfingst- und Sommerfestspielen. Während Moshe Leiser und Patrice Caurier 2015 das Flüchtlingsdrama im Mittelmeer als Ausgangspunkt ihrer Interpretation nahmen, sieht Andreas Homoki seinen Ausgangspunkt im Fluch des Tantalos, wonach jeder seiner Nachkommen ein Mitglied der eigenen Familie umbringen muss. Zum musikalischen Unwetter der Introduktion als Zeichen für den Seelenzustand, erleben wir Iphigénies Albtraum, wie ihre Mutter Klytämnestra ihren Gatten Agamemnon tötet und sie wiederum von ihrem Sohn Orest erschlagen wird.
In einem schwarzen, meist lichtlosen Tunnel (Ausstattung: Michael Levine, Licht: Franck Evin) durchleben die von der Göttin Diane vor Agamemnons selbstsüchtiger Opferung gerettete Iphigénie, die nun aber auf Tauris für den psychopathischen Tyrann Thoas alle Fremden opfern muss, und ihr unglücklicherweise an der Küste von Tauris gestrandeter Bruder Orest die vom Schicksal auferlegte Strafe. Träume, Phobien und die Realität verschwimmen ineinander, weshalb Klytämnestra gleichzeitig eine Spiegelung von Diana ist, Agamemnon von Thoas. Die Priesterinnen der Diana wiederum sind Doppelgängerinnen Iphigénies, während die Skythen Doppelgänger von Thoas sind (kompakt und harmonisch einstudiert von Janko Kastelic der Chor des Opernhauses).
Homoki und sein Regieteam lassen die zeitliche Verortung offen.
Glucks Reformoper ist bis auf den letzten der vier Akte eher handlungsarm und stellt in rund 80 Minuten in erster Linie das Seelenleben der Protagonisten in den Vordergrund. Dafür sind Singschauspielerinnen und -schauspieler nötig, welche die oratorienhafte Statik mit ihrer Rolleninterpretation und ihrem Gesang kompensieren können. Dass Cecilia Bartoli dazu in der Lage ist, weiss man aus Salzburg. Ihre Iphigénie hat im Vergleich mit dem Salzburger Rollendebüt nochmals an Intensität zugelegt. Dieser jungen Frau in schwarzer Trauer nimmt man ihre Zerrissenheit zwischen Pflichterfüllung und familiärer Bindung und Liebe in jedem Moment ab, wenn sie Iphigénies Seele nach außen kehrt. Wie herzzerreissend trägt sie die Klagen Iphigénies und mit einer schier unendlichen Bandbreite an Ausdrucksnuancen vor.
Stéphane Degout als ihr Bruder Oreste steht der Bartoli darstellerisch nicht nach, brauchte aber am Premierenabend ein wenig Zeit, um sich frei zu singen. Erst im dritten Akt zeigt auch sein Vortrag, wie viele Abstufungen ein Piano haben kann. Frédéric Antoun singt Orestes Begleiter und Freund Pylade mit makelloser Tenorkantilene und eleganter Phrasierung. Die enge Freundschaft zwischen den beiden Männern erlebt man berührend im dritten Akt, als Iphigénie entscheidet, nur einen der beiden Männer zu opfern und den anderen in ihre gemeinsame Heimat Mykene zu senden. Jean-François Lapointe bringt das ideale Timbre für den herzlosen, psychopathischen Tyrannen Thoas mit, der immer wieder mit forderndem, schwarzen Ton Iphigénie an ihre von ihm aufoktroyierte Pflicht erinnert. Brigitte Christensen schließlich ist eine darstellerisch stattliche und stimmlich aufhorchen lassende Göttin Diane. Man darf gespannt sein, wie sie die Rolle der Iphigénie anstelle der Bartoli ab Mitte Februar anlegen wird.
Wenn sie ganz am Schluss den Willen der Götter verkündet und Iphigénie und Oreste so von ihrem ererbten Schuldkomplex befreit werden, wird es Licht am Ende des schwarzen Tunnels. Da durfte das Publikum seiner Begeisterung endlich applaudierend Luft machen. Bis dahin unterband Dirigent Gianluca Capuano nämlich am Sonntag (2.2.) jegliche Zustimmungsbekundungen. Was auch gut so ist, denn durch den pausenlosen Übergang der vier Akte entsteht eine 100-minütige Dauerspannung. Capuano und das Zürcher Haus-Originalklangensemble La Scintilla bringen das facettenreiche Bild von Glucks Partitur transparent und mit sinnlicher Ausstrahlung zum Klingen. Dem gebürtigen Mailänder merkt man die enge künstlerische Verbundenheit mit Cecilia Bartoli an. So sehr scheinen die Musiker jedem Atemzug, jeder Note der Bartoli zu folgen. Ein Fest für die Ohren in einer sehr reduzierten, aber stimmigen Umsetzung.