Freude, Schönheit und Liebe oder Kampf und Krieg?
GENF / LES INDES GALANTES
18/12/19 Lydia Steier und Choreograf Demis Volpi reüssieren im Grand Théâtre de Genève mit ihrer Deutung von Jean-Philippe Rameaus Ballettoper Les indes galantes, indem sie über den gesamten Abend eine zeitlos gültige, durchgängige Handlung legen.
Von Oliver Schneider
Was macht ein Regisseur heute mit Jean-Philippe Rameaus 1735 uraufgeführter Opéra-ballet, in der im Prolog Hébé, die römische Göttin der Jugend, und der Kriegsgott Bellone den Disput über die Vormacht von Freude, Schönheit und Liebe oder Kampf und Krieg eröffnen? Dieser wird dann in vier Entrées in damals fernen Ländern durchexerziert, bis am Ende die Liebe den Sieg davonträgt.
In Genf erleben die Besucherinnen und Besucher in einer neuen, durchgängigen Handlung zwei rivalisierende Gruppen, die von Hébé und Bellone angeführt werden. Hébés Anhänger, für die Freiheit, Freundschaft und Liebe weit mehr als Ordnung und die gewaltsame Herrschaft über andere zählen, haben sich in ein bereits teilweise zerstörtes barockes Logentheater zurückgezogen. Dieses dient der Gruppe in einer von Krieg gezeichneten Welt als Refugium für ihre Lebensvorstellungen, die sie vor allem tanzend mit ihren geschmeidigen Körpern ausleben (Bühne: Heike Scheele, Licht: Olaf Freese). Mit Gewalt dringen die natürlich schwarzen Soldaten Bellones in dieses Refugium ein (Kostüme: Katharina Schlipf). Es fallen Schüsse, später Bomben, Frauen werden misshandelt. Laut sind die Soldaten und die übrigen, ihren Ansichten folgenden Frauen und Männer auch deshalb, weil sie sich im Gegensatz zu Hébés Gefolgschaft stimmlich artikulieren müssen. Alan Woodbridge hat den Chor des Hauses für diese Aufgabe vorbereitet.
Lydia Steier, deren Zauberflöte-Produktion aus dem Salzburger Festspielsommer 2018 nächstes Jahr überarbeitet ins Haus für Mozart umziehen wird, und Choreograf Demis Volpi lassen Hébé, Bellone und ihre Anhänger in den in die Gesamthandlung eingebauten vier Entrées in die verschiedenen Rollen dieser Szenen schlüpfen. So können sie spielerisch erfahren, welches das bessere Lebenskonzept für sie ist. Eine Kiste mit der Aufschrift „Die Entführung aus dem Serail“ enthält zum Beispiel für Hébé das Passende, damit sie in die Rolle der von Piraten entführten Émilie schlüpfen kann, die sich nun gegen die Liebe des Paschas Osman alias Bellone wehren muss, weil sie Valère liebt.
Durch den Theater-auf-dem-Theater-Ansatz umgehen Steier und Volpi geschickt die Frage, wie man mit den überkommenen Klischees von Fremden umgehen kann. Entrées an Sultans-Höfen, in Peru oder bei den Indianern wird mit ein wenig Persiflage und Humor das heute Inkorrekte genommen, sodass Bellone und seine Gefolgsleute nachvollziehbar zu ebensolchen Anhängern von Freiheit, Freundschaft und Liebe werden wie Hébé.
Bemerkenswert ist nicht nur der Ansatz, einen Bogen über den gesamten Abend zu spannen, sondern vor allem auch, wie Solisten, Chor sowie Tänzerinnen und Tänzer miteinander diese Idee umsetzen. Fließend und ohne Brüche lassen sie Airs, Ritournelles und Ballettmusiken ineinander übergehen. Alle Ausführenden nehmen einen gleichberechtigten Part an diesem Abend ein. Volpi, der zukünftige Chef der Ballettkompanie der Deutschen Rhein, hat für die Tänzerinnen und Tänzer des Genfer Balletts Bewegungen ersonnen, bei denen ihre Körper immer wieder ineinander zu verschmelzen scheinen. Überhaupt nicht die Handlung unterbrechend, sondern schlicht notwendig wirkt ein langer, ganz und gar nicht klassischer Pas de deux vor dem dritten Entrée, weil das Tanzpaar bereits das glückliche Ende kongenial voraussagt.
Dirigent Leonardo García Alarcón und die international renommierte Cappella Mediterranea sind nicht zum ersten Mal in Genf zu Gast. Man mag Rameaus Musik schon mitreißender gehört haben, aber dank Alarcóns Sensibilität ist sie genau auf das Bühnengeschehen abgestimmt. Und der warme, fast schon cremige und doch ganz transparente, subtile Orchesterklang nimmt den Zuhörer vom ersten Moment an gefangen.
Erfreulich sind auch die sängerischen Leistungen des jungen Ensembles. Die meisten von ihnen geben Rollendebüts in Genf. Kristina Mkhitaryan als Hébé, Émilie im ersten und Zima im letzten Entrée sowie Roberta Mameli als Amour und Zaïre im dritten Entrée besitzen ideal instrumental geführte Stimmen. Renato Dolcini als Bellone kämpft im Prolog in der besuchten, dritten Vorstellung zunächst mit der Intonation, überzeugt aber im weiteren Verlauf als komischer Osman und als letztlich zur Liebe bekehrter Adario mit seinem wohlklingenden und geschmeidigen Timbre. Claire de Sévigné gelingen als Phani im „Peru-Entrée“ fein und zart die schmelzenden Klänge ihres Viens, Hymen mit obligater Flöte.