Geboren in Angst
REST DER WELT / MÜNCHEN / DIALOGUES DES CARMÈLITES
06/04/10 Verloren und verängstigt steht eine junge Frau im Strassenlärm, die Menschen hetzen an ihr vorbei. Ein Fremdkörper, dem nur die Flucht an einen scheinbar sicheren Ort bleibt: ins Kloster. Schnitt, nach der Vorgeschichte setzen Kent Nagano und das Bayerische Staatsorchester ein.Von Oliver Schneider
Kaum zu glauben: Poulencs „Dialogues des Carmélites“ haben erst 53 Jahre nach der Uraufführung ihren Weg an die Bayerische Staatsoper gefunden. Poulenc erzählt in seiner 1957 uraufgeführten Oper „Dialogues des Carmélites“ das historisch verbürgte Schicksal von 16 Karmeliterinnen aus dem Kloster von Compiègne, die während der jakobinischen Schreckensherrschaft auf dem Schafott enden. Das von ihm selbst verfasste Libretto beruht auf dem gleichnamigen Drama von Georges Bernanos und der Novelle „Die Letzte am Schafott“ der deutschen Schriftstellerin Gertrud von Le Fort. Während es in der Rahmenhandlung um die Geschichte der strengen Ordensschwestern geht, steht im Zentrum der inneren Handlung die Adelige Blanche, die von Lebensangst gepeinigt ins Kloster flüchtet. Doch auch dieser Ort und das Gebet vermögen ihr keine Orientierungspunkte und Sicherheit zu geben. Erst der Tod gemeinsam mit ihren Mitschwestern nimmt ihr die Furcht vor sich und dem Leben.
Dimitri Tcherniakov, der in München 2007 bereits mit Erfolg Modest Mussorgskys „Chowanschtschina“ in Szene gesetzt hat, versucht Poulencs Selbstporträt als Katholik aus seiner religiösen Schale zu lösen. Er sieht die Karmeliterinnen als Fundamentalistinnen, die nach strengen Regeln in einer abgeschiedenen Holzbaracke leben, die auf der Bühne des Nationaltheaters nach rechts und links, vor und zurück bewegt wird. Hier richtet der russische Regisseur und Bühnenbildner den Blick mit der Lupe auf Blanche und ihre Mitschwestern. Jedoch deckt sich das, was der Regisseur möchte, nicht mit dem, was der Zuschauer wahrnimmt. Die Gespräche der Schwestern über Lebensangst, Glaubenszuversicht, Gebet und Opfertod verhindern die Assoziation der Karmeliterinnen mit irgendwelchen Formen des Fundamentalismus. Der Purismus Tcherniakovs und seine Verortung der Handlung im Realsozialismus führen vielmehr dazu, dass die Aussagen des Werks ins Überkonfessionelle übertragen werden und damit an Gewicht gewinnen (Kostüme: Elena Zaytseva).
Das Schicksal hat ganz unterschiedliche Frauen in Tcherniakovs Holzbaracke zusammengebracht. Eine Seelenverwandte von Blanche ist die alte Priorin, die noch im Tod ihren Glauben an Gott aus lauter Angst verleugnet. Sylvie Brunet liefert ein eindrückliches Porträt einer alten Frau, die der Arzt möglicherweise vor ihrem Tod auf Drogenentzug setzt. Voller naiver Gläubigkeit hingegen Schwester Constance, die gemeinsam mit Blanche in den Orden der Karmeliterinnen eingetreten ist (stimmlich vielversprechend Hélène Guilmette). Resolut und streng Mère Marie, die die Schwestern auf das Marytriumsgelübde einschwört, sie aber später - zumindest bei Tcherniakov - selbst denunziert. Susanne Resmark setzt in dieser zentralen Rolle Massstäbe. Voller Verantwortungsgefühl für ihre Schwestern die neue Oberin Madame Lidoine, die sich immer wieder eine Zigarette genehmigt? Das Hauptaugenmerk liegt selbstverständlich auf Blanche vom Leiden Christi, die Susan Gritton auf den von Tcherniakov korrigierten Schluss hin phänomenal entwickelt. Anstatt ihre Angst zu überwinden, indem sie den Schwestern als letzte aufs Schafott folgt, rettet Blanche ihre Mitschwestern aus der abgeriegelten und zugenagelten Baracke, die schlussendlich in die Luft gejagt wird. Sie selbst stirbt als einzige den Märtyrertod.
Der Münchner Generalmusikdirektor Kent Nagano hat Poulencs Werk bereits in verschiedenen Produktionen dirigiert und auch auf CD eingespielt. Die Vertrautheit mit der eingängigen, effektvollen, stilistisch homogenen Musik mit ihren harten Schnitten ist in der Münchner Neuproduktion in jedem Moment spürbar. Nagano breitet die Vielfalt der musikalischen Einfälle und die Leitmotive mit dem fabelhaften Bayerischen Staatsorchester sorgfältig aus und sorgt dafür, dass die wenigen dissonanten Momente - zum Beispiel wenn die alte Priorin den Todeskampf aussteht - unter die Haut gehen. Nach dem bewegenden Schluss mit dem immer wieder erklingenden Fallbeil glaubt man kein besser geeignetes Werk für die Opernbühne in der Karwoche zu kennen.