Weibliches Monster und degenerierte Gesellschaft
REST DER WELT / GENF / LULU
07/02/10 Alban Bergs „Lulu“ in Genf: Marc Albrecht am Pult und Patricia Petibon in der Rolle der Femme fatale geben Versprechen für Salzburger Festspiele ab.Von Oliver Schneider
Als echtes Theater auf dem Theater mit Gruppenbildern der Mitwirkenden zu Beginn und Schluss erzählt der vielbeschäftigte Olivier Py das Leben jener Frau, die zwanghaft ihre Reize einsetzen muss, um die sexuellen Begierden ihrer männlichen und weiblichen Partner zu befriedigen.
Ein Weg, der von unten in der Gesellschaft bis ganz oben und wieder zurück führt, auf dem die mal laszive Schlange, mal scheinbar arrivierte Bürgersfrau, mal Marilyn Monroe-Double über Leichen voranschreitet. Pys Lulu ist eine Teufelin, auch dann, wenn sie auf einem mit „Meine Seele“ überschriebenen Podest über ihr Innerstes räsoniert. Eine Rolle, die Patricia Petibon mit Hingabe spielt und stimmlich mit Anstand meistert. In der Höhe klingt allerdings manches verschwommen, und in der Textdeutlichkeit liegt auch noch Potenzial. Vor allem im zweiten und dritten Akt – in der Rhonestadt wird die von Friedrich Cerha ergänzte Fassung gegeben – überzeugt die Petibon, rückt das weibliche Monster als Teil einer degenerierten Gesellschaft ins Zentrum. Und das, obwohl um sie herum vieles ablenkt.
Wie zuletzt bei Mozarts „Idomeneo“ in Salzburg beherrscht auch in Genf ein genialer, aber für die Interpretation redundanter Aufbau die Szenerie. Eine, dank Graffitis knallbunte Stadt, die Bühnenbilder Pierre-André Weitz noch mit Wortfetzen wie „Nacht, Ewigkeit“ oder „Ich hasse Sex“ auf Schildern charakterisiert, dreht sich im ersten und dritten Akt auf der Bühne im Kreis. Das erlaubt, mal Straßenzüge mit Sexshops, Bäckereien und einem Glücksrad zu zeigen, kurz danach Blicke in Hinterhöfe und Zimmer zweifelhafter Hotels zu werfen. Rot ist die vorherrschende Farbe, die für Sex und Rohheit steht.
Aktionismus ersetzt leider vor allem im ersten Akt eine klare Personenfokussierung. Im zweiten Akt gelingt Py die Konzentration auf das Kammerspiel wesentlich besser, was sich auch im mikroskopischen Blick auf die lüsternen Männer bis hin zum Kammerdiener zeigt. In die Übertreibung verfällt Py nochmals im dritten Akt, wenn Lulu ihre Männer als Prostituierte ernähren muss. „Verlorenes Paradies“ heisst es über einem Sexkino, in dem die tief Gefallene zunächst einen spießgen Professor befriedigt. Ihr dritter Freier und Mörder ist dann der als Weihnachtsmann verkleidete Jack the Ripper.
Dass Inszenierung und Bergs Zwölftonwerk mit seinen spätromantischen Wurzeln im Einklang stehen, dafür sorgt Marc Albrecht am Pult des gut disponierten Orchestre de la Suisse Romande. Er überzeugt mit einer transparenten, geschlossenen musikalischen Linie von subtiler Lyrik bis zu sattem Sentiment. Das Ensemble um Patricia Petibon bestätigt schliesslich das hohe Niveau des Stagione-Hauses: Gerhard Siegel ist ein wirkungsstarker, Lulu-höriger Alwa, Julia Juon eine gereifte Gräfin Geschwitz im roten Hosenanzug und Hartmut Welker ein clownesker Schigolch im Stimmherbst. Nur Pavlo Hunkas Biedermann Dr. Schön fehlt es stimmlich an Schattierungen. Jubel für alle Beteiligten.