Lebendig gewordener Stein
REISEKULTUR / NAUMBURG / DER NAUMBURGER MEISTER
20/09/11 Bestsellerautor Umberto Eco würde mit ihr gerne essen. Walt Disney soll sie zum Vorbild für die böse Königin im „Schneewittchen“ gedient haben: Die Figur der Uta im Dom zu Naumburg gehört zu den weltweit bekanntesten weiblichen Plastiken der Kunstgeschichte.
Von Horst Reischenböck
Für eine der spannendsten Landesausstellungen in Deutschland steht heuer Sachsen-Anhalt, das - unterstützt vom Musée Monuments Français und dem Musée de Louvre, also auch unter Schirmherrschaft von Nicolas Sarkozy - dem Rätsel des „Naumburger Meisters“ nachspürt.
Schon Georg Dehio vertrat die Ansicht, es müsste in Frankreich nach den Vorbildern gesucht werden. Die Verbindungslinien reichen bis nach Reims zurück, also bis zur ehemaligen Krönungskirche der französischen Könige. Dort entwickelte sich vor achthundert Jahren die Personalunion von Bildhauer und Architekt als Lehrmeister der Steinmetzkunst. Figuren mit Mienenspiel entstanden, die vielleicht von der Antike inspiriert, erstmals wieder Gefühle zeigen, wie etwa der Atlant am Westportal der Kathedrale von Noyon.
Und so, wie sie der Naumburger Meister dann in der Îlle de France, in der Champagne und in der Picardie mit seinen Gehilfen verwirklichte, etwa bei den Aposteln im Steinrelief des Liebfrauenportals von St. Etienne in Metz. Oder im Mainzer Dom im gotischen Lettner des Westchors, der später im Fundament eingemauert und noch später bei Bauarbeiten zufällig wieder gefunden wurde.
Die „Verdammten“ des Naumburger Meisters zeigen Angst und Sorge, während Papst, Bischof und Kaiser ihrer Seligkeit Ausdruck verleihen.
1243 langte der Tross dann an der Saale an. Hier entstand als absolutes Hauptwerk der Westchor. Zu sehen ist der Lettner als Illustration der Leidensgeschichte samt einem Dutzend Statuen der Wohltäter. Was für eine Vorstellungskraft! Damals bereits zweihundert Jahre alte Tote als Ideal höfischer Kultur lebendig werden zu lassen! Im Dom zu Meißen mit seinem der königlichen Kapelle in Paris vergleichbaren Ostchor und der oktogonalen ursprünglich Eingangskapelle verliert sich dann die Spur des Mannes, über den bis dato keinerlei Schriftquellen entdeckt werden konnten.
Rund fünfhundert Exponate, darunter mehr als die Hälfte Leihgaben, die ihre Heimat bislang nie verlassen haben, ergeben in Naumburg zum eindrucksvolles Bild: etwa die Stifterfigur des französischen Königs Childebert I., Apostelfiguren aus der Sainte-Chapelle, das eineinhalb Tonnen schwere Tympanon von Coucy, der Heilige Martin von Bessenheim oder eben der Meißner Lettner.
Daneben bietet das Stadtmuseum „Hohe Lilie“ die Möglichkeit, den Naumburger Stifterfiguren einmal Auge in Auge gegenüber zu stehen. In Gestalt von Gipsabgüssen, von Kaiser Wilhelm II. für ein dann nicht zustande gekommenes „Germanic Museum“ in Harvard in Auftrag gegeben. Mit 1,60 Meter gleichsam lebensgroß für mittelalterliche Zeiten lassen sich Graf Syzzo, Markgraf Ekkehart II. und seine Gemahlin Uta detailliert studieren.
Vor allem Utas geheimnisvollen Züge, die immer wieder zu Deutungen inspirierten: traute Gattin, unnahbare Herrin, geheimnisvolle Diva á la Greta Garbo? Das ging von der Vermarktung durch die Nationalsozialisten bis zu Briefmarken in Zeiten des Kalten Kriege, reichte über Romane bis in die Gegenwart herauf. Der Meister wurde jeweils als wanderndes Genie, als Mystiker oder Ketzer angesehen.
Das „Schlösschen“ vor der Wenzelskirche am Markt in Naumburg ist ein weiterer Schauplatz. Wie der Löwe als Symbol des Herrschers in menschliche Physiognomie übergeführt wurde, ist hier etwa zu sehen.
Der wieder erschlossene und instand gesetzte Garten hinter dem Dom bietet einen Blick auf die pflanzlichen Vorbilder für die filigranen Blattwerke der Kapitelle. Ein Bildhauer wiederum kopiert vor Ort bis zum Ende der Ausstellung am 2. November aus einer Vorlage eins zu eins eine Stifterfigur.
Bis in die Umgebung reicht die faszinierende inhaltsreiche Schau: Erstmals zugänglich sind die stimmungsvoll schlichte Kapelle der Aegidienkurie in nächster Nähe und die vom Naumburger Meister gestaltete Johanneskapelle mit ihren prachtvollen Schluss-Steinen - irgendwann auf den verwunschen wirkenden Domfriedhof hinaus verlegt, auf dem die Natur wieder von umgestürzten Grabsteinen Besitz ergreift. Memento mori, nicht zuletzt auch für den anonymen Naumburger Meister, von dem nur seine grandiosen Werke auf uns gekommen sind.