Die nackte Wahrheit mit Blaskapelle
REST DER WELT / WIEN / KOMMUNE DER WAHRHEIT
04/06/13 Im medialen Feinkostladen ist die ganze Wahrheit nicht im Stück zu haben. Eher nur scheibchenweise und möglicherweise appetitlich vakuumverschweißt, was sie attraktiver, aber nicht unverdächtiger macht.
Von Reinhard Kriechbaum
Nicolas Stemann hat bei den Salzburger Festspielen auf der Pernerinsel Faust 1+2 und Schillers „Räuber“ inszeniert. Jetzt hat er bei den Wiener Festwochen, in der nicht minder riesigen Halle E des Museumsquartiers, erstmals seine „Wirklichkeitsmaschine“ angeworfen. Da sitzen wir also auf zwei gegenüberliegenden Zuschauertribünen und haben zwischen uns eine messehallenartige Versuchsanordnung, audiovisuell aufgemotzt bis zum Gehtnichtmehr. Viele Verkaufsstände der Wahrheit, wie es aussieht. Jeweils kleine Arbeitsplätze, wo nach Bedarf an der Wahrheit geschnipselt und gedreht werden kann.
Je drei Schauspielerinnen und Schauspieler und zahlloses Hilfspersonal sind am Werk, um uns – gespeist mit Tagesaktualitäten aus Zeitungen und der ZiB2 – das Wahre und Richtige, das Wichtige und Verzichtbare auf unterschiedlichste Weise vor Augen zu führen oder um die Ohren zu knallen.
Auch die eigenartigsten Meldungen haben Charme, wenn sie von einer TV-Märchentante verlesen werden („...und morgen lese ich weiter an dieser schönen Geschichte“). Das Unnötigste und Unwahrscheinlichste bekommt Gewicht, wenn es eingebettet ist in Meldungen von Straßenschlachten in Istanbul oder weiteren Toten in Syrien. Hier stimmt ein Barde eine Fußball-Story an wie ein Rezitativ aus einer italienischen Oper. Dort wird eine Meldungs-Nichtigkeit eingeleitet von einem Trompetensignal. Über „die Märkte“ wird im Stil von Infotainment palavert. Eugen Freund berichtet im ZiB-Fake von der Abschaffung der Wahrheit und davon, dass nun Zeit sei, „sich nach Alternativen umzuschauen“: Da wird also des Langen und des Breiten in Dutzenden Formaten, die gemeinhin für die News-Verbreitung herhalten müssen (oder für deren bekömmliche Häppchen-Aufbereitung entwickelt worden sind) die nackte Wahrheit durchgespielt: ernsthaft oder parodistisch, naiv-aufrichtig oder plakativ-sarkastisch. Leider immer mehr schau-barock und nur selten hinterfotzig. Tiefgründig eigentlich überhaupt nie und aufrüttelnd schon gar nicht.
In Nicolas Stemanns „Kommune der Wahrheit“ basteln also ein Regisseur und sein Riesenteam aus Schauspielern, Technikern, Komparsen in einem Theater-Ameisenhaufen mit viel Auslauffläche an den Tages-News. Worauf sie nicht alles kommen! Dass nicht jede Meldung gleich viel wert ist, ist ihnen aufgefallen. Oder dass Dinge, die uns nachhaltig bewegen sollten, sich gegenseitig entwerten. Solche Dinge sollten wir freilich schon in der Schule mitgekriegt haben, und so wirkt die Sache über weite Strecken eben wie sehr ambitioniertes Schultheater. Aber freilich: So viel Bühnentechnik kann man sich dort nicht leisten, und auch keine Blaskapelle, die einmarschiert und an einem Punkt höchster Verwirrung durch Nachrichtenüberflutung für weitere Konfusion sorgt.
Selten, ganz selten, blitzen Optionen auf, wie man hintergründiger ans Thema ran gehen könnte: Da tiriliert eine Dame von „Fantasiepreisen fürs Schweinefleisch“ und gerät singend in Gustav Mahlers Lied „Ich bin gestorben im Weltgetümmel“, zerfledderte Zeitungen trägt sie wie Engelsflügel: Ja, aus solchen Partikeln könnte man einen Abend bauen, der echten Denk-Stoff und womöglich Poesie vermittelt und nicht bloß mit aneinandergefügten Banalitäten langweilt.
Absonderlich in dieser so kunterbunten wie trivialen Wahrheits-Welt: Das Internet kommt als Thema gar nicht vor. Könnte es sein, dass Nicolas Stemann aufs Leitmedium der Gegenwart vergessen hat? Oder sich gerade darauf nicht einlassen wollte? Wikileaks war für die gesamte Gruppe, die sich so übereifrig in Sachen Wahrheits-Hinterfragung geriert, überhaupt kein Thema. So kommt es, dass dieses Theaterspektakel unglaublich alt aussieht.
Der Tiefpunkt: Da sitzt das Bühnen-Trüppchen bei einem imaginären Lagerfeuer, sie singen „Ich will einfach nur glücklich sein“ und danach entwickelt sich eine knochentrockene Gesprächsrunde zwischen dem Regisseur, seinem Dramaturgen Carl Hegemann und zwei Gästen. Dagegen wirkt jeder mitternächtliche TV-Polit-Talk übersprudelnd vor Leben.
Schwer zu sagen, ob anämische Gedankenarmut oder gruppendynamische Gedankenüberflutung diesen zum Gähnen langweiligen Abend bei den Wiener Festwochen beschert haben. Als hemdsärmelige, aber nicht uneitle Hobbyphilosophen haben sich Stemann & Co damit nachdrücklich abschreckend positioniert.