Unsittenbilder der Endzeit
WIENER FESTWOCHEN / IN AGONIE
24/05/13 Je ein Stück von Miroslav Krleža gesehen auf einer deutschsprachigen Bühne? Eben. Jetzt heißt es Nachsitzen im Wiener Volkstheater: Martin Kušej hat für die Wiener Festwochen gleich drei Stücke von dem Kroatischen Schriftsteller (1893-1981) zu einem exzessiven Themenabend verbunden und schildert ausführlich die moralische Apokalypse in der Monarchie-Endzeit.
Von Reinhard Kriechbaum
Was für den Österreicher Joseph Roth die Familie Trotta („Kapuzinergruft“), das waren für Miroslav Krleža die Glembays: Auch er eine Familiensaga über die Endzeit hinweg, eine Parabel über den Niedergang der alten Gesellschaftsordnung und das Nicht-ankommen-Wollen in einer neuen Welt. Eine Trilogie hat Miroslav Krleža dieser Familie gewidmet, zwei Stücke davon - „Die Glembays“ und „In Agonie“ - hat Martin Kušej gewählt und verbunden mit einem weiteren Drama: „Galizien“, einem wüsten Stück, das mitten im Ersten Weltkrieg an der Front irgendwo in der jetzigen Ukraine spielt.
Alle drei Texte sind eine flammende Anklage an die verderbte bessere Gesellschaft der Donaumonarchie. Kein Wunder, dass Krleža damit in Österreich bisher nicht landen konnte. Hier kommt die nostalgisch verbrämte Zustandsbeschreibung (Auf der Linie von Schnitzler bis Roth) besser als die aggressiv-bärbeissige, oft frontale und polit-didaktische Sprache des Tito-Freundes Krleža.
Der Autor stößt uns hinein in eine abenteuerliche innerdynastische Enthüllung, in deren Verlauf das Familienoberhaupt während einer Auseinandersetzung an Herzschlag stirbt. An der aufgebahrten Leiche geht es erst so richtig los. Skrupellose Geschäftsleute waren die Glembays, mit der ehelichen Treue nehmen sie (und auch der allgegenwärtige Familiengeistliche) es nicht so genau. Die auffallend häufigen Selbstmorde stellen sich samt und sonders heraus als ein Zerbrechen an dem Klima der Verlogenheit.
Das ist die Stunde des Martin Kušej und vor allem der brillanten männlichen Gegenspieler vom Ensemble des Münchner Residenztheaters (wohin die Koproduktion übersiedelt): Manfred Zapatka ist der Familienpatriarch Ignaz, Johannes Zirner der herausfordernde Sohn Leo. An der Stiefmutter, Charlotte (Sophie von Kessel) entzündet sich die in der Regie brillant gezeichnete Malaise.
Das Publikum wird in den drei Akten hineingezogen in ein schier atemberaubendes Dickicht der gelebten Lüge, des bewussten Wegschauens oder des fatalistischen Nicht-wahrhaben-Wollens. Der Herausforderer Leo seinerseits, der da aus der inneren Emigration aus- und einbricht in die Familie, entpuppt sich nach und nach selbst als Gefangener alten Denkens: Bald wird klar, dass mit solchem Hintergrund, mit solcher gesellschaftlicher Prägung kein Aufbruch in eine neue Wertordnung möglich sein wird, nur politischer und gesellschaftlicher Ruin: Diese eindreiviertel Stunden sind großes Schauspieler-Theater – und das Stück wohl eines, das man in solcher Besetzung in den Kanon der Epoche aufnehmen sollte.
Leider geht es dann nicht so stringent weiter. Martin Kušej will uns den endgültigen Ruin und die Spätfolgen vorführen. In „Galizien“ zuerst. Wir sind mitten im Ersten Weltkrieg, an der Ostfront. Der Adel und die bürgerlichen Wirtschaftsbarone sind mutiert zu saufenden und hurenden Perverslingen, die ihre Untergebenen schikanieren und missbrauchen. In dieser Episode des theatralen Stationen-Abends vom unaufhaltsamen Ruin setzt der Regisseur auf krasse Bilder und auf alkoholschwangeren Slapstick. Das ermüdet und verwässert eher die Sicht. Nach fünfzehn Minuten hat man durchschaut, um was es geht. Da hätte vermutlich nur der Rotstift geholfen. Ja schon: Wenn die Offiziere im Schlussbild von „Galizien“ da sitzen und stockbesoffen ihre Weltsichten diskutieren – da steckt viel Hellsichtiges auch über dunkle Zeitläufte der Zukunft drin.
Sophie von Kessel hat in allen drei Stücken eine Rolle, spielt immer eine „Baronesse“ mit ungewissem Herkommen, immer eine Frauenfigur aus der besseren Gesellschaft, die eigentlich der Hurerei nachgeht. Aber in solchen Kreisen nennt man das natürlich nicht so.
Schließlich Episode drei, jenes Stück, das auch bei Krleža „In Agonie“ heißt und in Wien dem ganzen Abend den Titel gegeben hat. Eine fatale Dreiecksbeziehung. Eine Frau – querständisch „modern“ besetzt: Britta Hammelstein – hat die Zeichen der Zeit erkannt. Sie arbeitet, im Gegensatz zu ihrem Mann aus altem Offiziersadel. Er ist ein verlotteter Spieler geworden, der sich von seiner Frau aushalten lässt und schließlich voll falschem Selbstmitleid Hand an sich legt. Sie hat einen Geliebten, einen Vertrauten: Aber auch dieser um keinen raffinierten Argumentations-Dreh verlegene Anwalt entpuppt sich als ein im tiefsten Herzen in der alten Ordnung verankerter „Gestriger“. Das moralische Doppelleben hat er gleichsam inhaliert, er spricht von „Improvisation nach dem Schiffbruch“ und wird es wohl wirklich zum Justizminister bringen, wenn nur alle im rechten Moment schweigen...
„In Agonie“ ist, was die endzeitliche Sicht und die Folgen auf unsere Gesellschaft (vor allem die Institution Ehe) anlangt, der hellsichtigste Abschnitt – von der theatralen Umsetzung freilich der bei weitem mühsamste. Das liegt an Britta Hammelstein, die an Ausstrahlung mit ihren Gegenspielern Götz Schulte und Markus Hering einfach nicht mithält. Das liegt auch an der Regie: Kušej setzt auf ein dekorationsloses Kammerspiel im undefinierten weißen Raum, lässt die Figuren einander kaum näher kommen als drei, vier Meter. Das ist Didaktik pur, knochentrocken. Dafür braucht man als Theaterbesucher freilich erst den Nerv, wenn man schon vier Stunden abgesessen hat.
Ein Abend für Ausdauernde und Konditionsstarke mithin. Nach „Kölnischwasser, womit wir all das abwaschen können“, ruft einer – und meint das Ende der Monarchie und seiner Gesellschaftsordnung. Ob sich das lange Sitzen wirklich ausgezahlt hat? „In Agonie“ sollte man vielleicht doch für sich allein auf den Prüfstand stellen. Es verträgt (und verdient vermutlich auch) kein ermattetes Publikum.
Weitere Vorstellungen am 24., 25. und 26.5., jeweils 18 Uhr im Volkstheater - www.festwochen.at
Bilder: Thomas Aurin