Splitterfasernackte Wahrheiten
REST DER WELT / GRAZ / STEIRISCHER HERBST
12/10/12 Sind sie gerade noch rechtzeitig dem Totengräber der Postmoderne von der Schaufel gesprungen? Die Performance-Truppe „La Pocha nostra“ ist derzeit beim Steirischen Herbst in Graz zu Gast. Und am selben Abend entblätterten sich die Tänzerinnen der Young Jean Lee’s Theater Company für eine „Untitled Feminist Show“.
Von Reinhard Kriechbaum
Man kann gewiss nicht sagen, dass der Donnerstag (11.10.) ein erlebnisarmer Theaterabend in Graz gewesen wäre. „Untitled Feminist Show“ – die wird von sechs Damen an- und abgeheizt, die ihr Gewand erst für die Applausrunde drüberziehen. Wie der liebe Gott sie schuf – und er schuf sie beileibe nicht bloß in der zart-sehnigen Balletttänzerinnen-Version – machen sie etwas, das uns nachhaltig irritieren soll. Femininer Körperbau und die Geschichten, die sie uns in Tanz-Stories, singend und in köstlichen stummen Pantomimen vorführen: Wie geht das zusammen? Passen die „Rollenbilder“ zu den Körpern oder entstehen verwunderliche Diskrepanzen, auf der Bühne und vor allem in den Köpfen der Zuschauerinnen und Zuschauer?
Die New Yorker Autorin und Regisseurin Young Jean Lee zielt auf (zu oft) unreflektierte Geschlechter-Sterotypen. Auf Feminismus-Ideologien welcher Art auch immer lässt sie sich nicht ein, und schon gar nicht auf militante Spielarten davon: Sie lässt ihre Protagonistinnen lustvoll und mit ultra-leichter Selbstironie Geschichten um Geschichen erzählen, die mehr oder weniger mit Männern und Frauen und manchmal auch mit ihrem Verhältnis zueinander zu tun haben. Keine Spur von didaktischem Kalkül und schon gar nicht von Zwang – die charmante Einladung bloß, nachzudenken über Geschlechterrollen.
Im Steirischen Herbst, der an diesem Wochenende (14.10.) zu Ende geht, waren Kunst und ihr (gesellschafts)politisches Wirkungsfeld das Thema. Ist eine „politischere“ Truppe als „La Pocha Nostra“ aus San Francisco denkbar? Es ist eine Schauspielergruppe um den mexikanisch-stämmigen Performancekünstler Guillermo Gómez-Peña. „Psycho Magic Actions for a World gone Wrong“ macht man und setzt damit, nicht unähnlich den nackt tanzenden Aktivistinnen anderthalb Stunden zuvor, nicht auf fertige Botschaften, sondern auf die Assoziationen setzen, die das Publikum mitbringt.
Man wandelt also zwischen vier Podesten, auf denen die Darsteller in tollkühne, bizarre Verkleidungen schlüpfen. Mindesten acht Augen täte man brauchen, um all das mitzubekommen, was da simultan und querfeldein abläuft. Was hat es für eine Bewandtnis mit dem eine Axt schwingenden Indianerhäuptling, den eine rot gekleidete Dame à la Carmen an einer Kette führt? Was mit dem nackten Mann, der wie tot da liegt, den Kopf mit einem Sombrero bedeckt und einem Gebinde aus stacheligen Agave-Blättern an exponierter Körperstelle? Er erwacht zu Wagners „Walkürenritt“, eine schwarze Dame scheint da die Fädenzieherin zu sein. Es geht, das ist schnell klar, um physische und psychische Gewalt, um Fremdbestimmtheit, um Unterdrückung. Wie man aussteigen könnte aus diesem quicklebendigen Totentanz? Dafür gibt es in dieser krassen Verkleidungs-Performance wenig Ansätze, die müssen wir uns schon selbst ausdenken. Davonlaufen ist wahrscheinlich keine Lösung, und drum wandelt das Publikum anderthalb Stunden lang zwischen den bewegten Standbildern und einer Video-Projektionsleinwand herum. Immer wieder angeln sich die Schauspieler Leute aus dem Publikum, die zu Handlangern und Mitspielern werden. Jemandem ein Maschinengewehr an die Brust oder sonst wohin setzen? Das ist nicht jedermanns Sache.
Ein rechtes Pandämonium also. Das Arsenal an Verkleidungen ist gewaltig. Auf drei Tischen liegen die obskursten Requisiten bereit. Dass der coole Typ, der ein bisserl an Che Guevara denken lässt, einen Tierkadaver in der Hand hält und gegen Ende zum Tranchiermesser greift? Dass eine der Schauspielerinnen nackt mit zwei Ölkanistern hantiert? Keine Sorge, die blonde, langhaarige Zuschauerin wird nicht, wie angedroht, mit der Sense skalpiert, denn nach ein wenig Zögern folgt auf die herausfordernde Frage von Guillermo Gómez-Peña – „Should I?“ – doch ein entschiedenes kollektives „No“ von Publikumsseite.
Wahrscheinlich könnte diese Performance noch besser funktionieren, wenn die Zuschauerinnen und Zuschauer weniger artig, sondern inter-aktiver wären.