Für uns gibt es immer etwas zu fürchten
WIEN / BURGTHEATER / DIE TROERINNEN
25/04/22 Es ist kein so großer Unterschied zwischen dem Jahr 415 vor Christus (als Euripides' Troerinnen mutmaßlich das erste Mal ihr Schicksal beklagten) und unseren Tagen: Die australische Regisseurin Adena Jacobs berichtet im Burgtheater von den Frauen – und nur von ihnen. Sie sind die logischen Kriegsopfer ob des Geschlechts.
Von Reinhard Kriechbaum
„Troja … nicht mehr … Königin“ stammelt Hekabe. Zwanzig Kinder hat sie verloren im Krieg um die nun zerstörte Stadt. Wie alle Troerinnen sieht auch sie einem leider allzu gewissen Schicksal entgegen: Die Frauen werden als Sklavinnen unter den Kriegsgewinnern verlost. Adena Jacobs lässt sie nackt dastehen, mit kahlgeschorenen Köpfen. Für die Sieger sind sie vermutlich nichts als potentielle Gebär-Maschinen, die eine neue Generation von Macht-Ausübern hervorbringen werden.
Man kann nun nicht sagen, der Krieg in der Ukraine habe diese Inszenierung eingeholt: Was Euripides vor zweieinhalb Jahrtausenden beschrieben hat, ist die Logik des Kriegs per se. Es geht um das Archetypische seiner Täter und Opfer. Die ersten Leidtragenden sind die Frauen aller Länder und Völker, die je in Kriege verwickelt waren. Aber selbstverständlich: Die Millionen von Frauen, die in den vergangenen Wochen aus der Ukraine geflohen sind, machen die „Troerinnen“ des Euripides gerade jetzt zum Theaterstück der Stunde. Das Blut kann einem in den Adern gefrieren an diesem theaterabend ohne jede direkte Anspielung auf den gerade so nahen Krieg.
Adena Jacobs fokussiert das Geschehen ausschließlich auf die Frauen. Die Männerrollen sind samt und sonders rausredigiert. Beim Text des Griechen ließ sie es nicht bewenden, die Regisseurin griff auf ein Textkonglomerat zurück. Euripides eher minimiert, dafür sind Gedanken von Ovid und Seneca hinein montiert. Und ein nicht unbeträchtlicher Teil der wie bruchstückhaft aufgebreiteten Psychogramme stammt von der australischen Dramatikerin Jane M. Griffith, mit der Adena Jacobs schon seit vielen Jahren zusammenarbeitet. Gerhild Steinbuch hat den zugleich hoch expressiven wie verknappten, zwischen Ohnmacht, Wut, Trauer, Aufbegehren und Verzweiflung mäandernden, in Ellipsen taumelnden Text übersetzt.
Der Kriegslärm ist noch nicht verklungen, wenn Hekabe als erste ausholt. „Kein Unterschied mehr zwischen Zorn und Trauer“ beschreibt die Chorführerin (das steht so bei Ovid) deren Seelenlage, aber das gilt auch für die anderen drei, für Andromache, Kassandra und Helena. Auf jede ist jeweils eine ausufernde Solo-Episode zugeschnitten in diesen dichten, von eindringlichen Ritualen bestimmten 135 Spielminuten. Sylvie Rohrer ist die Königin Hekabe. Wie die drei anderen hat sie alles und vor allem sich selbst verloren hat und steigert sich nun hinein in einen Wort-Blutrausch, in dem sich doch die Hilflosigkeit des Augenblicks überdeutlich spiegelt. Sie verzehrt sich in Selbstbeschuldigungen, Paris hervorgebracht zu haben: „Ein tollwütiger Hund / Nagt an meiner Brust, ein / Knäuel Schlangen birst / Aus mir heraus / Räkelt sich / Auf meinem Bauch … Er war das Feuer / War die Fackel / Ich habe die Fackel geboren.“
Sabine Haupt ist Andromache, die vor einem Brutkasten steht und das Frauenlos direkt anspricht: „Für uns gibt es immer etwas zu fürchten.“ Und, wie eine stete Drohung: „Sie sagen, du gewöhnst dich an alles.“ In einem grausigen Zeremoniell wird sie ihr Kind, ein Klumpen Fleisch nur mehr, selbst zerstückeln. Lilith Häßle, die Kassandra, wird von Vergewaltigung berichten. „'Nein' sag ich / Sage 'nein' / 'Bitte' sag ich / Und er spuckt mir in den Mund meine Eingeweide bersten ...“ Und Helena (Patrycia Ziolkowska), die in den Augen der anderen vermeintlich Schuldige am Krieg? „Es gibt tausend Helenas, wenn man die Augen offen hält“, rechtfertigt sie sich. Ihr rotgold funkelndes Kleid wird sie bald ablegen, und auch sie wird nackt dastehen, als Opfer.
Adena Jacobs Theater ist auch eines der starken, der überwältigenden Bildwirkung, die sie gemeinsam mit Euynee Teh (Bühne, Kostüme, Video) der Choreografin Melanie Lane und einem eingeschworenen Team entwickelt. Frauen verschiedener Hautfarbe, verschiedenen Alters, auch Kinder bilden den (Bewegungs-)Chor. Hilflos und ausgeliefert wie die Protagonistinnen ist auch dieses Kollektiv, individuell und uniform zugleich anmutend in den fleischfarbenen engen Trikots. Dieser Chor redet nicht, wimmert höchstens. Er bildet mit seinen Körpern am Boden Formationen, die von oben gefilmt und ins Bühnen-Schwarz projiziert werden wie Hirngespinste oder Albträume. Da können Körper wie magisch nach oben fliegen. Oder die Hauptdarstellerinnen lösen sich aus den durchscheinenden Figuren heraus. Das perfektionistische Neben- und Übereinander von Live-Spiel und Projektionen, verbunden mit den insistierend-langen, doch immer lebendigen, sich weiterentwickelnden elektronischen Klängen – das ergibt ein optisch und akustisch einprägsames Gesamtkunstwerk mit starker Sogwirkung. Aus gutem Grund hat das Premierenpublikum gerade auch das Szeniker-Team besonderen, anhaltenden Bravi bedacht.
„Sie vergaß ihr Alter, ihren Zorn vergaß sie nicht“, erfahren wir über Hekabe, aber das gilt für all diese Frauen, die in ihrer sagenhaften Verzweiflung bereit sind, „jeden Säugling zu erwürgen mit den Eingeweiden seiner Mutter“.