Für den Hausheiligen und seine Kirche
CD-KRITIK / AMARCORD / THOMAS-GRADUALE
11/02/13 Ja echt. In der Leipziger Thomaskirche hat es schon vor Bach Musik gegeben. Und ganz, ganz weit vor Bach, vor der Reformation, sogar eine katholische. Das so genannte Thomas-Graduale überliefert Gregorianischen Choral, wie er im Spätmittelalter dort gesungen wurde. Und es hält eine Überraschung in Sachen Bach bereit.
Von Reinhard Kriechbaum
Das Thomas-Graduale ist ein für den Kantor gedachtes Antiphonar mit noch genauer zu erforschender „Choralschule“. Das kleinformatige (also nicht für eine vor einem Pult sich versammelnde Sängergruppe gedachte) Buch spiegelt die Choralpraxis in den Jahrhunderten nach Erfindung der Notenschrift: Der Kantor hatte, zur Gedächtnisstütze, als einziger ein Notenbuch. Die Sängergruppe sang damals (im späten 12. und frühen 13. Jahrhundert) gewiss noch auswendig. Jene interpretatorischen Gesangsanweisungen, die in den Neumen ausgedrückt waren und die dann mit Einführung der Linien-Notation verloren gegangen sind, waren in der Gesangstradition selbstverständlich noch geläufig.
Godehard Joppich (der Choralspezialist wurde im Vorjahr achtzig Jahre alt) berät das Ensemble amarcord schon geraume Weile in Choralangelegenheiten. In einem ausführlichen Interview im Booklet erklärt er, wie also die ursprüngliche Choraltradition weiterwirkte. Aus den damals zeitgemäßen Noten des Thomas-Graduales (laienhaft gesagt: eine Adaptierung der Metzer Neumen auf Notenlinien, was dann in Richtung Hufnagelnotation weist) können heutige Sänger Informationen entnehmen, wie sie sich sonst aus den frühmittelalterlichen Neumen erschließen.
Amarcord setzt das schlüssig um, so dass der Ausdrucksgehalt der Texte bestens umgesetzt wird. In der Gesangskultur ist amarcord naturgemäß deutlich besser drauf als manche reputierte Choralschola. Die geschmeidigen Tonrepetitionen, die Homogenität der ruhig ausschwingenden Melodien, die souveräne Artikulation – das hat seine eigene Qualität. Hinsichtlich der Textverständlichkeit bleiben keine Wünsche offen.
Thematisch geht es in den beiden erstmals auf CD greifbaren Messzyklen um das Kirchweihfest und das Fest am Tag des Apostels Thomas. Gelegentlich hat der theologisch ehrgeizige Schreiber dieser Leipziger Handschrift einige Wörter eingefügt, die im katholischen Messkanon gar nicht vorgesehen sind. So hat er etwa den Heiligen Geist ins Gloria hinein reklamiert. Bach hat diese Eigenheiten übernommen. Das sind starke Indizien, dass die jetzt in der Leipziger Universitätsbibliothek aufbewahrte Handschrift tatsächlich der Thomaskirche zuzuordnen und noch Bach zur Verfügung gestanden ist. Bach verwendet diese Text-Eigentümlichkeiten in seinen Messen. In der Bach-Exegese wurde ihm deshalb ein bewusstes eigenständiges theologisches Interpretieren nachgesagt, das in Wirklichkeit bloß ein Abschreiben der Textvorlage, eben aus dem Thomas-Graduale, war.