Ist mein Bach wirklich das A und O?
CD-KRITIK / JESU MEINE FREUDE
24/12/21 Wir schmunzeln besserwisserisch, wenn wir lesen, dass die Leipziger gar nicht so glücklich waren, als sie sich den „altbackenen“ Bach als Thomaskantor eingehandelt hatten. Weil man „die Besten nicht kriegen kann...“, heißt es in einem Protokoll der Stadtväter etwas naserümpfend.
Von Reinhard Kriechbaum
Schwer vorstellbar, dass Bach nicht der Beste, nicht „das A und O“ gewesen sein soll. Aber man versteht den Frust der Zeitgenossen dann doch viel besser, wenn man sich vergegenwärtigt, dass die Musikgeschichte nicht so schön chronologisch abgelaufen ist wie im Lehrbuch. Da gärte im mittleren 18. Jahrhundert viel und machte sich ziemlich zeitgleich Luft. Allenthalben begann der „empfindsame Stil“ (also das Rokoko) dem Barock den Rang abzulaufen. Nicht nur in Mannheim experimentierte man fröhlich auf den frühklassischen Stil hin, was mit einem musikalischen „Sturm und Drang“ einher ging. Ein Jahreszahlen-Beispiel nur: Mozart war elf Jahre alt, als in Hamburg 1867 erst der „barock-empfindsame“ Telemann die Augen schloss... Vieles lief da also mehr oder weniger nebeneinander her – und ja, Bach mag da für seine Zeitgenossen ein wenig wie der Lordsiegelbewahrer einer unaufhörlich ihrem Ende zusteuernden Ära erschienen sein.
Gordon Safari und sein Ensemble BachWerkVokal lassen auf ihrer CD Jesu meine Freude dieses Nebeneinander nachfühlen. Auf verführerischste Weise, indem sie eben ein wohlbekanntes Kirchenlied in Varianten nebeneinander stellen. Bachs Motette – die ist freilich ein Stück ganz vorne im Kanon der Chorliteratur. Hier in der denkbar beweglichsten Besetzungsvariante, fünfstimmig-solistisch mit Continuo nämlich, steuert Gordon Safari durch die anschauliche Wort-Zeichnung dieses bestbekannten Stücks. Es kommt entsprechend locker und eloquent daher.
Aber da hat man noch von den ersten Tonspuren Georg Philipp Telemanns Kantate im Ohr, und die ist rhetorisch ein ganz anderes Kaliber. Wenn mir gleich Leib und Seele verschmacht – was für Dissonanzenketten! Wie Telemann physisches und psychisches Leid da einem Chor überstülpt, geht's unmittelbar unter die Haut. Tolle Dinge auch in den Arien, vom Sopran-Affetuoso mit den heißen Seufzern, die in Blockflöten-Sound hineingehaucht werden, bis zu jenem dem Bass anvertrauten Wunsch Schlage bald, gewünschte Stunde, in dem das Streichorchester tickt und klickt wie ein altes Uhrwerk, voller Charme und doch irgendwie erbarmungslos.
Johann Friedrich Doles lebte von 1715 bis 1797. Er war Schüler Bachs, soger dessen Nach-Nachfolger als Thomaskantor. Als er starb, war Mozart auch schon sechs Jahre tot. Beim alten Bach habe er „viel in der contrapunctischen Setzart gearbeitet“, schreibt Doles über sich, aber die „sanfte und rührende Melodie“ habe er anderswo gefunden. Was für eine eigenartige Mischkulanz der Stile zwischen hochbarocker Fugenkunst und Mannheimer Klassik mitsamt allen Zwischenstadien! Doles' Motette Jesu meine Freude ist eine Ersteinspielung und – in all ihrer liebenswürdig schrulligen Unausgegorenheit – das eigentliche Fundstück auf dieser CD, die man schon aus Gründen der Repertoire-Erfahrung einfach haben muss.
Johann Ludwig Krebs, auch ein Bach-Schüler und als Notenkopist einer der getreuen Adjutanten für seinen Lehrer, hat ebenfalls Jesu meine Freude vertont. Diese Komposition ist ein Musterbeispiel für den „empfindsamen Stil“. Auch da schlägt die Stunde, tickt demnach die Uhr – aber sie tut das im Pizzicato der Streicher, während die Solo-Oboe die Sopranstimme sanft umschmeichelt.
Es ist eine Epoche, bei der man Stück um Stück, Satz um Satz mit Überrschungen kleinerer und größerer Art rechnen muss. Im Schlusschoral der Krebs-Kantate zum Beispiel mit ganz unüblichen, feinen Instrumental-Schnörkseln. Viel gelernt also in 65 Minuten – sehr lohnende Musik in einer Interpretation auf absolut aktuellem Stand historischer Aufführungspraxis.