Vir taceat in ecclesia!
CD-KRITIK / VIVALDI / GLORIA, MAGNIFICAT
07/12/16 Die Frauen hatten generell in der katholischen Kirche die Klappe zu halten. Sogar die Sängerinnen. Nicht so in Venedig: Dort erkannte man des merkantile Potential der singenden und musizierenden Mädchen in den „Ospedale“. Damit ließ sich Ruhm und Geld machen.
Von Reinhard Kriechbaum
Musikreisende waren platt vor Erstaunen über die Musikkultur und das damit verbundene Konzertwesen. Freilich: Die geistliche Musik von Vivaldi, mehrheitlich für die jungen Damen dort geschrieben, schreibt auch Tenöre und Bässe vor (jedenfalls in den heute verbreiteten Notenausgaben). Wo kamen eigentlich die männlichen Sänger her? Hat man sie zu besonderen Anlässen hinzugezogen? Oder gab es „Urfassungen“ dieser Stücke, die dann der weiteren Verbreitung wegen für gemischten Chor umgearbeitet wurden?
Diese Frage beschäftigte den französischen Musikologen und Spezialisten für den italienischen Barock, Geoffroy Jourdain. Mit dieser Aufnahme legt er praktischen Diskussionsstoff vor für seine Hypothese, dass die jungen Sängerinnen wendig genug waren, einen gemischten Chorsatz als Oberchor umzusetzen. Die Bratschen, so die Beobachtung des Musikwissenschafters, gingen oft mit den Celli und Bässen parallel. So ergibt sich für eine eventuelle Basstimme in Altlage ein absolut tragfähiges Fundament. Da die „Chortöne“ damals höher lagen (mit bis zu 460 Hertz sogar höher als der moderne Kammerton), hatten die Frauenstimmen keine Probleme in der Tiefe.
Und die Tenorstimme? Da experimentiert Geoffroy Jourdain mit einer Transposition um eine Oktav nach oben, was zusammen mit dem Sopran einen dichten Oberstimmensatz ergibt. Manchmal drängt sich der zum Sopran mutierte Tenor gar melodisch über die eigentliche Melodiestimme.
Wie funktioniert das nun in der Praxis? Natürlich horcht man einige Male auf, „Gloria“ und „Magnificat“ sind schließlich Klassiker der Literatur. Besser vielleicht, zuerst einmal unvoreingenommen das effektvolle, aber doch weniger bekannte Kyrie in g-Moll RV 587 zu testen oder das Credo in e-Moll RV 591: Die Aufnahme mit der famosen Damengruppe „Les cris de Paris“ überzeugt mit einem absolut plausiblen Klangbild, bei dem das Orchester im Fundament erwartungsgemäß etwas kräftiger, sprechender herauskommt als in gemischtstimmiger Variante. Die differenzierte Continuo-Besetzung bringt zusätzliche Farbe, wie überhaupt man in dieser Frauenchor-Variante auch im allbekannten „Gloria“ und im „Magnificat“ manches Orchesterdetail quasi neu wahrnimmt. Geoffroy Jourdain lässt es da auch nicht an gediegener Rhetorik fehlen.
In den polyphonen Passagen ergeben sich zwischen Sopran und der nun also auch als quasi-Sopran dastehender Tenorstimme ungewohnte, aber charmante Kanon-Wirkungen. Eine überraschende Sache, auf die Geoffroy Jourdain im Booklet hinweist: Durch die Höherlegung der Tenorstimme seien manche Quintparallelen quasi automatisch korrigiert. Diese „Satzfehler“ Vivaldis werden freilich kaum einem Hörer der üblichen Besetzung bisher sauer aufgestoßen sein. Aber umso besser, wenn auch die Tonsatz-Professoren nun ruhiger schlafen können...