Unzuverlässig wie's im Buche steht
BUCHBESPRECHUNG / LEHNER / VATER UNSER
02/12/20 Ist sie eine Schwerverbrecherin oder eine Betrügerin, die sich nur psychisch krank stellt? Die so intelligente wie gestörte Eva verwirrt und fasziniert... Die Autorin Angela Lehner bekam für ihr Roman-Debüt Vater unser den Rauriser Literaturpreis 2020 - und konnte diesen im Rahmen der Kulturpreisverleihungen endlich entgegen nehmen.
VON MANUELA MAIER, CHRISTINA MAYR, BIRGIT POINTNER UND ANNA WEINKAMER
Die Kritik ist sich einig: Ein unglaubliches Debüt, für welches Angela Lehner unter anderem der heurige Rauriser Literaturpreis zugesprochen wurde. Doch was ist an diesem Roman so besonders? Wie schafft es Angela Lehner, die Leserschaft so in den Bann zu ziehen und zu beeindrucken?
Ein Polizeiauto bringt Eva Gruber zu keinem geringeren Ort als dem Otto-Wagner-Spital, einer Einrichtung für psychisch Kranke in Wien, denn sie behauptet, eine Kindergartenklasse erschossen zu haben. Die Betonung liegt auf „behauptet“, denn Vater unser ist ein einziges Spiel zwischen Realität und Fiktion. Eva Gruber, die ungewöhnliche Protagonistin mit dem gewöhnlichen Namen, ist eine unzuverlässige Ich-Erzählerin wie sie im Buche steht. Sie behauptet so einiges auf den 284 Seiten des Romans. Was davon stimmt und was nicht, bleibt offen.
Eva rückt sich mit der autoritären Macht eines Ich-Erzählers in den Mittelpunkt und der Leser wird überflutet von ihren Eindrücken, Erinnerungen und Interpretationen. Im von Albträumen und Therapien geprägten Anstaltsalltag kommen immer wieder Erinnerungsfetzen an die Kindheit in einem katholisch geprägten Dorf in Kärnten ans Licht. Mit der Zeit aber muss der Leser feststellen, dass diese nicht immer der Wahrheit entsprechen und er es mit einer äußerst unzuverlässigen Erzählerin zu tun hat. Ab und zu hat man das Gefühl, für einen ganz kurzen Moment die Wahrheit greifen zu können, bevor Eva sie einem wieder vor der Nase wegschnappt.
Der Roman ist in drei Abschnitte – Der Vater, Der Sohn und Der Heilige Geist – unterteilt. Während im ersten Teil eine relativ klare inhaltliche Kohärenz vorhanden ist, wird diese im zweiten Teil stark erschüttert. Erinnerungen, Widersprüche, Handlungen – das Spiel beginnt: Was ist real? Was ist wahr von dem, was wir aus der Sicht Eva Grubers erfahren? Hat der Vater tatsächlich Selbstmord begangen? Doch warum ist es dann Evas oberstes Prinzip, den Vater zu töten? Ist die Mutter tot? Wenn ja, warum taucht sie plötzlich in der Psychiatrie auf? Wurden die Kinder missbraucht? Warum fürchtet sich der Bruder vor der Schwester? – Antworten darauf zu finden, entpuppt sich als große Schwierigkeit. Sicher ist nur, dass – und das wissen alle – Eva immer lügt…
Der Roman Vater unser, dessen Cover in schreienden Farben gehalten ist, springt einen förmlich an. Und wenn es einen erst einmal gepackt hat, lässt es einen auch nicht mehr los. Angela Lehners Debüt überzeugt mit authentischen Dialogen. Dass laut Lehner alles mit Eva Grubers Stimme begonnen hat und sich daraus dann der Roman entwickelt hat, erscheint absolut nachvollziehbar.
Mit Wiener Phrasen und dialektalen Ausdrücken zeigt die studierte Komparatistin ein Feingefühl für Sprache und Witz. Ihr subtiler Humor macht das Leben Eva Grubers in der Klinik zu einem Theater mit gut recherchierten Schauplätzen, realistischen Therapie-Gesprächen und Krankheitsbildern. Applaus für die Autorin und ihre einzigartig verrückte Eva.