Von Fächern und Fangzähnen
JAZZFESTIVAL SAALFELDEN
28/08/16 Einst verlor auf offener Bühne ein Wagner-Wotan seine Sangeskräfte. Es war dies der Ausgangspunkt einer legendären Rettungsaktion: Weil noch einige Götternoten an diesem Premierenabend zu singen waren, musste dringend Ersatz her. Und er wurde von der Wiener Staatsoper auch tatsächlich gefunden. Allerdings an einem untypischen Ort: Als der Sänger den Notruf aus der Direktionsloge entgegennahm, schmauste er gerade an einem Imbissstand.
Von Christoph Irrgeher
Wenn sich in Saalfelden eine solche Unpässlichkeit einstellt, muss dagegen weder zum Handy gegriffen noch die halbe Stadt durchkämmt werden. Von Fans ebenso frequentiert wie von Praktikern, Planern, Platten- und PR-Menschen, darf das Jazzfestival im Pinzgau als Messe der freien Improvisationsszene gelten. Insofern kein Beinbruch, dass der Flugverkehr am Samstag (27.8.) jene Pünktlichkeit vermissen ließ, die Mario Costa rechtzeitig in Österreich hätte ankommen lassen: Auf der – freilich fieberhaften – Suche nach einem neuen Schlagzeuger fand das Emile Parisien Quintet im anwesenden Wolfgang Reisinger hochkarätigen Ersatz. Wobei der an sich nur als „Privatier“ da war. Für die vakante Stelle, attraktiv nicht zuletzt wegen der damit verbundenen Zusammenarbeit mit Pianist Joachim Kühn und Klarinetten-Doyen Michel Portal, legte er indes einen ungeplanten Probentag an.
Der gipfelte dann im wohl besten Konzert des Samstagabends. Keine Band strotzte so sehr vor Möglichkeiten und wirkte zugleich kompakter; keine durchwob gehaltvolle Kompositionen besser mit freiem Jazz. Da beginnt ein Stück etwa wie ein Walzer für einen Tim-Burton-Film: lieblich, ein wenig bizarr. Schon schrauben sich Kühns Arabesken in immer höhere Erregungszustände, schon stößt Parisien mit schwirrenden Saxofonklängen nach: Der Groove-Boden ist zu Lava geworden, die dunkle Dämonie eines David-Lynch-Films regiert. Fire walk with me! Viel Applaus für das Ensemble; viel Jubel aber auch schon, als sich der verspätete Costa doch noch einstellt und Reisinger mit einer Umarmung ablöst.
Nicht alles greift am Samstag freilich so harmonisch ineinander, nicht jedes Band-Konzept im Kongresshaus geht auf. Dennoch ist an diesem zweiten Hauptbühnen-Tag manche Entdeckung zu machen. Etwa bei Edi Nulz – wobei nicht der Frontmann, sondern die Band so heißt. Mit Bassklarinette, Bass und Schlagzeug besetzt und laut Programmtitel „an der vulgären Kante“ angesiedelt, betreibt das Trio mit allerlei Breaks und Stilbrüchen Schabernack. Es erinnert insofern ein wenig an das Schweizer Ghost Town Trio, in seiner rhythmischen Komplexität aber auch an das (deutlich härtere) Panzerballett aus München.
Eine völlig andere Tür stößt Chiri auf. Nicht nur, dass es in diesem Trio – für Saalfeldener Verhältnisse ungewohnt – Gesang gibt; er kommt von einem Mann der koreanischen Tonkunst. Von Sperrfeuern aus der Trompete (Scott Tinkler) flankiert, vor allem aber herben Schlägel-Hieben des Australiers Simon Barker, psalmodiert sich Bae il Dong durch eine Stunde voll fernöstlichen Herzeleids. Gekleidet in einen graublauen Kittel, tut er dies wahlweise grollend, grunzend, winselnd, fistelnd, brüllend oder röhrend, stets aber mit einer dicht gepressten Stimme: Klänge, wie mit Waffengewalt aus der Kehle gezwungen. An dramaturgischen Knackpunkten (etwa bei einem Grabeslied) geht Bae il Dong zu Boden, mitunter spannt er auch grimmig einen Fächer auf. Stimmt zwar: An heimischen Hörgewohnheiten singt er meilenweit vorbei. In ihrem Ausdruckswillen erweist sich diese Performance aber als durchaus Jazz-kompatibel.
Es gilt an diesem Samstag aber freilich auch, Durststrecke zu überbrücken. Wie etwa das Tomeka Reid Quartet. Beginnend mit einer Art „Autumn Leaves“-Nachwehe, setzt es ein schrummelndes Cello ins Zentrum seines dissonanzgespickten, dennoch handzahmen Jazzes. Ermattend wuchtig dagegen das US-Quartett Burning Ghosts: Dieses verfolgt vor allem die Strategie „Gib ihm, fünfter Gang!“ und exekutierte sie mithilfe eines Eins-Zwei-Dresch-Schlagzeugs und einer E-Gitarre aus dem Heavy-Metal-Versand, während sich eine Trompete in hymnischen Gemeinplätze ergeht.
Gewiss: Auch Berserker-Bands haben Tradition in Saalfelden. Sie verfehlen ihre Wirkung jedoch, wenn sich ihr Kraftmotor quasi im substanzleeren Raum dreht. Ein Phänomen, das auch schon am Freitag, dem ersten Hauptbühnen-Tag, einmal zu beobachten war. Gerüstet mit E-Gitarre, Saxofon und Schlagzeug, bürgen die Norweger von Krokofant vor allem für rasenden Stillstand. Der Programmheft-Vergleich mit King Crimson wirkt da im doppelten Sinne bemüht: Während sich die legendäre Progrock-Band in den 70er Jahren ihre ganz eigenständige Mischung aus Proto-Metal und Jazz erfand, wirken Krokofant wie das klobige Echo auf die auch schon langbärtigen Freejazzrocker.
Erfrischend danach der gebrochene Bebop des Marty Ehrlich Sextet: Trotz hochkarätiger Besetzung (mit Jack Walrath und Ray Anderson) nicht ganz auf der Höhe ihrer Möglichkeiten, erfreuten die Herren im Rahmen eines swingenden bis bewusst verwischten Klangbilds mit widerborstigen Soli.
Bleibt noch das Eröffnungskonzert zu erwähnen: Wie jedes Jahr, war der prominente Platz einem heimischen Musiker vorbehalten – und Lukas Kranzelbinder wusste ihn zu nutzen. In seinem neuen Septett Shake Stew setzt er einerseits die ekstatische, bisher dreisame Arbeit mit Herbert Pirker und Mario Rom fort („Interzone“); andererseits rüstet der Kärntner das Klangbild mit einem zweiten Schlagzeuger und Kontrabassisten massiv auf. Und das durchaus bereichernd: Da kann eine Nummer mit schamanischen Bläserschlieren beginnen, da kann urplötzlich eine Art Drum-and-Bass-Beat folgen, von den Schlagzeugern eng vernetzt gedonnert; da können die drei Bläser, wie trunken vor Energie, gemeinsam Schlangenlinien fahren. Und da trompetet Rom dann wieder so ein grandios dunkles Nachtalb-Solo.
Warum auch immer das Programm „The Golden Fang“ („Goldener Fangzahn“) heißt: Kranzelbinder hat damit jedenfalls ein gutes Händchen bewiesen, und er besitzt auch die Bühnenpranke, um weite Klangräume überzeugend zu bewirtschaften. Weder zu dicht noch zu luftig strukturiert, schöpft Shake Stew aus einem ausgewogenen, mitunter überraschenden Mix aus komponierter Musik und spontaner Ergänzung. Ab Ende des Jahres übrigens auch als Stage-Band im Wiener Porgy & Bess zu hören.
Das Jazzfestival Saalfelden geht heute, Sonntag (28.8.) zu Ende - www.jazzsaalfelden.com
DrehPunktKultur-Gastautor Christoph Irrgeher ist Kulturredakteur der Wiener Zeitung