Seelenkäufer in Absurdistan
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24/05/15 Pawel Iwanowitsch Tschitschikow ist wahrscheinlich einer der ersten Wirtschaftsverbrecher in der Literaturgeschichte. Zumindest in dieser Dimension. Zu Dumpingpreisen kauft er, Hauptfigur von Gogols Roman „Die toten Seelen“, die Namen von verstorbenen Bauern, deren Tod noch nicht aktenkundig ist bei den Behörden.
Von Reinhard Kriechbaum
Sozialbetrug heißt das mit modernem Wort. Was Nikolai Gogol da 1842 beschrieben hat, taugt immer noch als Geschäftsmodell, ist unterdessen allerdings verfeinert. Die Tschitschikows unserer Tage luchsen dem wirtschaftsliberalen Staat Bauprojekte und Kanalsysteme, zu verwettende Schulden oder ungeliebte Spitalsleistungen ab. Gogol täte sich heute wundern über die eigene Hellsichtigkeit.
„Tote Seelen“ – so heißt die Produktion des Gogol-Zentrums Moskau in der Regie des russischen Kult-Theatermannes Kirill Serebrennikow. Kein Artikel, es wird allgemein. Serebrennikow ist einer, der die Geschichte seines Landes ungefähr so kritisch anschaut wie das Heute. Am Roman um den „Seelenkäufer“ Tschitschikow braucht er nicht lang zu justieren, um alles Gestrige weitgehend vergessen zu machen. Neun Schauspieler und einen Pianisten schickt er ins Rennen, in einem geräumigen, schmucklosen, nach hinten sich leicht verengenden Kubus aus Pressspanplatten. Drei große alte Autoreifen, drei Tische, ein paar Sessel. Unaufwändiger kann Theater nicht sein.
Dort also treibt Tschitschikow seine Mauscheleien. Mit Menschen, die der Regisseur bei aller Überdrehtheit, bei allem Slapstick mehr als ernst nimmt. Klar sind sie selbst „tote Seelen“, haben sich überlebt, sind aus der Zeit gefallen. Aber sie waren vermutlich früher nicht weniger Schlitzohren als der Erzschurke Tschitschikow. Ihm kontern sie mit übertriebener Vorsicht oder mit Misstrauen, mit Bauernschläue oder mit merkantilem Gespür.
Rasche Identitätswechsel, Verwandlungen, Verkleidungen, alles in blendendem Timing. Da dürfen die Herren sich schon mal kurz in eine Hundemeute verwandeln oder in Frauenkleider schlüpfen und als Mägde der Witwe Petrowna den vermeintlichen Weltmann beäugen. Auf den ersten Blick mag mancher der Typen klischeehaft aussehen, ein wenig so wie ähnliche Figuren in nicht ganz bewältigten Tschechow-Inszenierungen. Aber eben nur auf den ersten Blick. Immer dreht der Regisseur deutlich weiter an der Schraube. Da bekommen die Herren Gutsbesitzer bizarre und dämonische Züge. Sie werden echte Herausforderungen für den Seelenkäufer Tschitschikow, sind äußerst vital und temperamentvoll und geben sich echt widerständisch. Es ist ein Kräftemessen quasi auf gleicher Augenhöhe.
„Tote Seelen“ ist in dieser auch ob der schauspielerische Ensembleleistung beeindruckenden Aufführung durchs Moskauer Gogol-Zentrum bei den Wiener Festwochen zum ersten Mal im deutschen Sprachraum zu sehen. Enorm viel Text – und man ist mit dem Lesen der deutschen Übertitel ziemlich gut beschäftigt. Das steht gelegentlich der Wahrnehmung der mimischen und gestischen Feinmotorik, die diese Theaterarbeit auszeichnet, entgegen.
Nicht zu vergessen: Das Klavier am linken Bühnenrand. Es wird nämlich auch gesungen. Alexander Manotskow hat Gogols „lyrische Abschweifungen“ in Chansons, Balladen und Bänkelsängerlieder verwandelt, in tollkühnem Stil-Mix. Das sind dann Kommentare, die die Story nochmal herauszuheben helfen aus der historischen Ferne. „Russland, was willst du von mir?“, singen sie zuletzt. Gute Frage.