Europa Horror Picture Show
REST DER WELT / GRAZ / WHERE DO YOU GO TO, MY LOVELY
29/04/13 "Was ist Deine Vision vom Europa?“ Die Terroristin will eine Antwort und hält dem Befragten die Knarre vors Gesicht. Gleich drauf kreischt sie: "Sag etwas Poetisches über Europa!" Da liegen drei Geiseln schon mausetot da, eine nette kleine Familie. Dem Kandidaten hat es die Sprache verschlagen bei dieser Radikalvernehmung in Sachen EU.
Von Reinhard Kriechbaum
"Kontrafaktische Geschichtsschreibung" heißt das, was Oliver Frlji? da in ziemlich panischem Tonfall betreiben lässt. Das "Was wäre gewesen wenn" ist bei konservativen Historikern eine verbotene Frage. Der 1976 in Travnik (nördlich von Sarajevo) geborene Bosnier, der im kroatischen Split aufgewachsen ist und derzeit in allen Ländern Ex-Jugoslawiens auf sich aufmerksam macht und zu Widerspruch (sogar zu Zensur) reizt, lässt sich nichts verbieten. Es lässt die Gedanken dahingaloppieren - oder in diesem Fall: den europäischen Stier dahintrampeln. In einer einer Szene wird tatsächlich einem Schauspieler ein gewaltiger Stierkopf aufgesetzt, und der Bulle vergeht sich an der zarten Europa im Sommerkleidchen und mit weißem Schleier im roten Haar aufs Brutalste.
Was soll aus einem Kontinent schon g'scheites werden, der seinen Namen einem solchen Mythos verdankt? Aber es gab dann ja noch die eine oder andere Wendung in der Geschichte, die ebensowenig zur Ehre gereicht. Da war was mit Konzentrationslagern und so. In einer Szene von "Where Do You Go To, My Lovely …?" lässt Oliver Frlji? einen Österreicher davon erzählen: Mit einer Deutschen sei er damals verheiratet gewesen, aber diese Leute waren damals ja stigmatisiert (Österreich hatte gerade den Anschluss erfolgreich abgelehnt), mussten Schwarz-rot-gold-Embleme tragen... "Hast Du von Lagern für Deutsche gewusst?"
Verqueres passiert auf der Probebühne des Grazer Schauspielhauses, an vier zum Quadrat gestellten Tischen un Sesseln als einzige Dekoration. Das Publikum sitzt rundum und erlebt eine Europa Horror Picture Show. Es ist alles ganz anders bei Oliver Frlji?. Bundeskanzler Kohl 1989 bei einem Attentat von DDR-Freischärlern umgekommen. Westeuropas Sozialsysteme sind zusammengebrochen ("Meine Frau ist in Polen, damit wenigstens irgendwer Geld verdient."). Schließlich sind wir live dabei, wenn im Fernsehen davon berichtet wird, das alle 27 EU-Staatschefs bei einem Terroranschlag umkommen seien. Das wächst oft aus ruhigen Gesprächssituationen heraus und kippt unversehens in Aberwitz und Brutalität. Immer wieder fallen die sechs Schauspieler übereinander her. Wüstes Handgemenge und Gekreische.
Bürgerkrieg, eine entsolidarisierte Gesellschaft? Oliver Frlji? tritt nicht an, um Antworten zu geben. Er schert sich wenig um einen plausiblen Erzählstrang. Wie zusammengeklebte Streifchen eines wüsten Films wirkt das. Wir sind möglichweise, wahrscheinlich sogar im falschen (Europa-)Film.
Immer wieder werden wir auch herausgeholt. "Ist nur Theater", sagt die Terroristin in der eingangs beschriebenen Szene, bevor eine Geisel dran glauben muss. Immer wieder hebt eine oder einer mit dem Gedanken an, was wohl das Publikum davon halten mag: Nicht nur kontrafaktische europäische Geschichte und Zukunft, auch kontrafaktisches Theater also. Ist Oliver Frlji? eigentlich für oder gegen die EU? Klar ist vor allem eines: Den Medienberichten, die tagtäglich auf uns prasseln, ist nicht zu trauen, auch wenn die Causa Europa in Summe nicht so verheerend läuft, wie wir das hier sehen müssen.
Wie arbeitet der Kroate Oliver Frlji?, der zum ersten Mal für eine deutschsprachige Bühne arbeitete? "Ich spreche kein Deutsch. Also muss ich neben all den anderen Dingen einen Weg finden, das zu verstehen, das ich erschaffe", sagt er in einem Interview. Die Texterfindung vertraue er dem Ensemble und dem Dramaturgen (Christian Mayer) an. Er als Theatermacher konzentriere sich "primär auf Rhythmus und Energie, und nach der Szene, wenn sie fertig ist, übersetzt sie mein Team für mich und wir sehen, ob sie auf textlicher Ebene stimmt". Rhythmus und Energie hat die Szenenfolge, keine Frage. So verquer dieses in blutroten Farbtönen gemalte, panisch überhitzte, sich in Worst Case-Szenarien schraubende Europa-Bild auch ist: Man kann nicht behaupten, dass einen der Abend kalt ließe. Man hat zu kiefeln und mit anderen zu diskutieren. Schön, wenn Theater eben das gelingt.
Irgendwann muss ein großer, weiser Herrschar auf Europas "Thron" gestiegen sein. Er berichtet gegen Ende von "frevelhaften Taten des Wahnwitzes", die geeignet seien, die "Erhabenheit und Würde meines Werkes" zu zerstören. Grenzen zu, Ausnahmezustand. Auf den vier Tischen werden schwarze Kreuze aufgestellt, wie auf einem Soldatenfriedhof. Eine "Schweigeminute für Europa" wird angesagt. Ende der Vorstellung.