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„Fang mich doch, du altes Loch“

REST DER WELT / BREGENZER FESTSPIELE / SOLARIS

19/07/12 Was 1961 noch ferne Zukunftsmusik zu sein schien, ist heute bereits zur Realität geworden. Und doch hat der Science-Fiction-Roman „Solaris“ des polnischen Schriftstellers Stanislaw Lem ob seines zeitlos gültigen psychologischen Sujets nicht an Faszination verloren.

Von Oliver Schneider

Es gibt zahlreiche Adaptionen für Bühne- und Film von dem Stoff, auch eine Kammeroper von Michael Obst. Die Bregenzer Festspiele und die Komische Oper Berlin erteilten dem erfolgreichen deutschen Komponisten Detlev Glanert den Auftrag zur erneuten Vertonung des Romans, das Libretto verfasste Reinhard Palm. Uraufführung war am Mittwoch (18.7.) im Bregenzer Festspielhaus.

Da der Kompositionsstil des Henze-Schülers auf einem Fundament aus französischem Impressionismus, Spätromantik, Schostakowitsch, Mahler und Zweiter Wiener Schule aufbaut, hat auch sein jüngstes Werk gute Chancen, nicht in den Archiven zu verschwinden.

Der Psychologe Kris Kelvin wird auf den Planeten Solaris entsandt, wo sich auf einer Forschungsstation merkwürdige Dinge ereignen. Der Forscher Snaut ist nervlich zerrüttet (Martin Koch mit spitzem Charaktertenor), während sein älterer Kollege Sartorius Züge von Alban Bergs Doktor im „Wozzeck“ trägt (punktgenau getroffen von Martin Winkler). Doch es befinden sich noch andere Wesen auf der Station: Kelvin hört die keifende Stimme einer alten Frau, sieht eine körperlich grell überzeichnete barfüßige Schwarze, die die Leiche von Kelvins Lehrer Gibarian aus dem Kühlfach zerrt. Der entschlossen wirkende Sartorius wehrt sich gegen einen Zwerg, der ihn immer wieder an seinen Beinen zerrend mit den Worten „Fang‘ mich doch, du altes Loch“ plagt. Drei Wesen, die Vergangenes bei den Forschern wieder wachrütteln.

Während Kelvin schläft, lässt das Plasmameer von Solaris, musikalisch symbolisiert durch den unsichtbaren Chor – es singt der Prager Philharmonische Chor einstudiert von Lukáš Vasilek – auch bei ihm die Vergangenheit aufleben: Kelvin erscheint ein Fantasma, das seiner einstigen, von ihm verlassenen Geliebten Harey gleicht, die deshalb Selbstmord beging. Anders als seine beiden Kollegen will Kelvin seine Vergangenheit schlussendlich nicht abschütteln und verliebt sich in die neue Harey, wofür Glanert in der zentralen Szene des ansonsten zu lang geratenen zweiten Teils zarteste Lyrismen geschaffen hat. Nachdem aber Sartorius alle fremden Gäste endgültig ins Jenseits befördert hat, sucht Kelvin den Tod im Plasmameer. Beim flämisch-französischen Regieduo Moshe Leiser und Patrice Caurier fliegt Kelvin nach seinem tiefsinnigen Schlussmonolog als Abschied von der Vergangenheit für immer in die Galaxie. Eine berührende szenische Lösung, die Hand in Hand mit dem Morendo-Schluss geht.

Überhaupt muss man sagen, dass Leiser und Caurier nach dem überladenen „Giulio Cesare in Egitto“ von Händel bei den Salzburger Pfingstfestspielen solides, gutes Regiehandwerk abgeliefert haben. Auf eine zeitliche Verschiebung konnte man bei einem Science-Fiction-Thema getrost verzichten, gespielt wird in einer Weltraumforschungsstation, die mit heutigen Augen fast schon ein bisschen antiquiert wirkt (Bühne: Christian Fenouillat, Kostüme: Agostino Cavalca). Das manipulierende Plasmameer wird neben der vom Komponisten vorgesehenen musikalischen Form in bedrohlichen Videoeinspielungen (Tommi Brem) zusätzlich sichtbar gemacht. In diesem Raum können sich die Protagonisten spielerisch entfalten. Vor allem Dietrich Henschel als Kris Kelvin, dessen Bariton kerngesund auf Linie schwingt, leistet an diesem Abend Hervorragendes, Marie Arnet überzeugt als Harey mit sachlich-schlichtem und berührenden Tonfall.

Detlev Glanert hat sein Werk für das spätromantische Orchester komponiert, das er jedoch so differenziert und dosiert einsetzt, dass die Singstimmen immer klar hervortreten und nicht zuletzt dank ausgezeichneter Diktion immer gut verständlich sind. Unter Markus Stenz, der bereits die Uraufführung von Glanerts „Caligula“ in Frankfurt am Main leitete, spielen die Wiener Symphoniker hoch konzentriert, prägnant. Sie bereiten feine Seidenteppiche aus sphärischen Klangfarben aus oder lassen die Musik plötzlich bedrohlich anschwellen. Stenz überträgt seine eigene Begeisterung für das Werk so auf alle Mitwirkenden, dass sie zu einer Einheit verschmelzen und die archaischen Botschaften zum Publikum transportieren.

Während der Bregenzer Festspiele werden noch weitere Werke des deutschen Komponisten auf dem Programm stehen, unter anderem „Nijinskys Tagebuch“ im Theater am Kornmarkt als Koproduktion mit dem Landestheater Linz sowie die Bearbeitung von Franz Schuberts „Einsamkeit“ D 620 für Sopran und Orchester.

Weitere Aufführungen am 22. und 25. Juli - www.bregenzerfestspiele.com
„Solaris“ wird ab 19. Mai 2013 in der Komischen Oper Berlin, dem Koproduktionspartner, zu sehen sein. - www.komische-oper-berlin.de
Bilder: Bregenzer Festspiele / Karl Forster

 

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