Fischen in trüben und tiefen Wassern
REST DER WELT / WIEN / WASTWATER
08/05/12 Stephan Kimmig legt schnörkellos brutal die dunklen Flecken von sechs menschlichen Seelen in Simon Stephens‘ „Wastwater“ offen. Die deutschsprachige Erstaufführung fand am letzten Aprilwochenende im Akademietheater statt.
Von Oliver Schneider
Eine öde Lagerhalle mit zwei Säulen, eine Pfütze im Raum. Je nach Situation, zwei Stühle und ein Tisch. Der Lärm von startenden oder landenden Flugzeugen erinnert daran, dass man sich in der Nähe von Londons Flughafen Heathrow befindet, dort, wo vorerst keine dritte Startbahn gebaut wird. Plätschernder Regen zu Szenenbeginn jeweils. In diesem Set lässt Stephan Kimmig Stephens 2011 in London uraufgeführtes Werk spielen. Die Uraufführungsproduktion war an den letztjährigen Wiener Festwochen zu Gast.
In drei, auf den ersten Blick unabhängigen Dialogen – je ein Frau und ein Mann – geben die Partner Einblicke in ihre Seelen, die so tief und unergründlich wie der Wastwater im englischen Lake District sind. Da ist zunächst einmal Frieda, die sich von ihrem Pflegesohn Harry verabschiedet. Harry wandert an die kanadische Westküste aus. Doch etwas stimmt mit ihm nicht, denn seine Fingerkuppen hat er sich schon ganz blutig gestoßen, hastig tippt er SMS ein – und er hat Blasenprobleme. Harry ist ein Neurotiker. Daniel Sträßer spielt ihn, jener Absolvent der Mozarteums-Schauspielschule, der es auf Anhieb ins Burgensemble gebracht und dort im Vorjahr als Romeo debütiert hat).
Das Abschiednehmen fällt beiden schwer, auch wenn sie es nicht sofort offen zugeben wollen. Stattdessen quälen sie sich mit gegenseitigen und Selbstvorwürfen. Elisabeth Orth, die Grande Dame des Burgtheaters, gibt die sorgende Alte kongenial, abgeklärt, die ihrem Pflegekind schließlich ihr letztes Erspartes zusteckt. Die Verantwortung für sein Leben und für den richtigen Weg trägt Harry dann selbst. Sicher ist Frieda nicht, dass er nicht noch einmal von der Bahn abkommt.
Szenenwechsel: ein Hotelzimmer. Die Polizistin Lisa trifft sich mit dem am College lehrenden Mark. Das Ziel ist klar, doch erst offenbart Lisa Mark den dunklen Fleck in ihrem Leben. Sie war drogensüchtig und hat sich das Geld für das Heroin mit Sexfilmen verdient. Ob es Mark etwas ausmache? Nein, nein, winkt er ab und wird doch immer verlegener. Apathisch stopft er Erdnüsse in sich herein. Ach ja, und dann hat Lisa noch gerne Sadomaso. Andrea Clausen ist für Lisa eine Idealbesetzung, wenn sie auch mitunter scharf an der Karikatur vorbeischrammt. Peter Knaack gibt den Künstler, der erst seit sechs Monaten wieder arbeiten kann. Ein Unfall eines begabten Schülers hat ihn in seiner schöpferischen Arbeit blockiert. Ob der Schüler ihm mehr bedeutet hat? Und was verändert sich für ihn in seiner Beziehung zu seiner Freundin, wenn er das Austauschangebot nach Minneapolis annimmt? Antworten gibt Stephens keine.
Letzter Wechsel: Jonathan (Tilo Nest) trifft sich mit der Punk-Frau Sian (Mavie Hörbiger), mit der er den Kauf eines philippinisches Mädchens besiegelt. Jonathan ist sich der Illegalität des Geschäfts bewusst, ist nervös, und Sian nutzt ihre scheinbare sicherere Position aus. Sie und ihre Partner haben Jonathan auf Schritt und Tritt überwacht, bis zu seinen Schritten im Netz. Immer mehr drängt Sian den ehemaligen Mathematiklehrer in die Enge, zaudert auch nicht davor zurück, ihren Schlagring einzusetzen. Sie will wissen, ob Jonathan wirklich ein Kind adoptieren will, wenn auch nicht weil ihr das Wohl des Kindes so sehr am Herzen liegt, sondern in Erinnerung an ihre eigene Kindheit. Auch sie ist ein Pflegekind von Frieda, womit ein Faden zur ersten Szene gesponnen wird. Jonathan hat übrigens auch Blasenprobleme, wenn er Angst hat, ein dünner Faden zu Harry. So bildet sich über die reine Thematik der dunklen Seelen hinweg ein gewisser Bogen über den Abend. Das Thema Abschied und Auswandern verbindet Harry und Mark, Lisa ist Polizistin in der Kinderabteilung.
In „Wastwater“ liefert Simon Stephens eine entblößende Schilderung der menschlichen Psyche, was Stephan Kimmig mit hervorragenden sechs Schauspielern so umsetzt, dass der Zuschauer das Akademietheater beklommen und im eigenen Innern herumstochernd verlässt. Ein Abend, der wie im Fluge vergeht.