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Wir alle sind Schafe...

REST DER WELT / GRAZ / RECHNITZ (DER WÜRGEENGEL)

27/03/12 … und damit wir das auch nicht vorschnell verdrängen, blökt gleich eine ganze Herde auf der Bühne des Grazer Schauspielhauses. Trotzdem lieber nicht Schäfchenzählen, denn Elfriede Jelineks Text „Rechnitz (Der Würgeengel)“ braucht die ganze Wachheit des Publikums.

Von Reinhard Kriechbaum

Rechnitz im Burgenland, nahe Oberwart. Dort wurde erst dieser Tage eine Gedenkstätte eröffnet. Eine der Schau-Vitrinen ist leer gelassen worden. Warum? Man weiß zwar um das Massaker an ungarisch-jüdischen Zwangsarbeitern dort, das Grab der 180 in den allerletzten Kriegstagen Ermordeten ist aber noch nicht wieder aufgespürt worden. Die kurz nach dem Kriegsverbrechen einmarschierte Rote Armee hat das Massengrab zwar geöffnet, es gab einen Prozess, aber Augenzeugen sind rätselhafterweise umgekommen oder hatten sich längst ins Ausland abgesetzt. Es ist im Wortsinn Gras über die Sache gewachsen.

Wer klagt einen Mord an ohne nachweisbare Opfer? Was berichtet die Geschichte, oder genauer: Was berichten die „Boten“, denen Elfriede Jelinek ihre assoziationsreiche Erzählung in dem 2008 in München uraufgeführten Stück „Rechnitz (Der Würgeengel)“ in die Münder legt? Die Autorin wollte das Stück nicht in Österreich gespielt wissen, für die Erstaufführung in Graz bedurfte es der Überredungskunst, hört man.

Auf die Boten also sind wir angewiesen. Ob auf einen oder mehrere, das überlässt Jelinek dem Regisseur. In Graz, in der Inszenierung von Michael Simon, sind es vier Boten. Gelegentlich greifen sie zu Blechblasinstrumenten und bilden mit der Brass-Bühnenmusik (Komposition Bernhard Neumaier) dann ein mächtiges Oktett, das sinnfällig etwas hinausposaunt. Aber ist das, was uns die Boten hören lassen, auch nur einigermaßen verlässlich? „Ich würde das der Geschichte nicht glauben, wenn sie nicht selbst die Wahrheit sagen kann“, heißt es einmal. Die gefinkelt gedrechselten Sätze, die Sinnverdrehungen und Abgründigkeiten durch Wortspielereien lassen erst gar keinen festen Boden für irgendeine Gewissheit aufkommen. „Wir stimmen die Geschichte mit uns ab“, so ein leitmotivischer Satz in einer der ersten Szenen.

Gute zwei Stunden also wird das Geschichtsbild durch die Mangel gedreht. Deftige Bilder hat sich der Regisseur ausgedacht. Auf Luis Buñuels surrealistischen Film „Der Würgeengel“ bezieht sich ja der Titel des Stücks. Da brechen grelle Parodien auf den Betrachter herein, bizarre Übersteigerungen und ein schier barockes Schau-Spiel mit bemalten Kulissen-Vorhängen. Aber all das ist ebenso schnell wieder weg, weicht der Leere, wo alle Konzentration den kunstvoll gebauten sprachlichen Argumentationsketten gelten darf. Denise Heschl hat die vier fabelhaft präzis ans Wort-Werk gehenden Protagonisten – Nicola Gründel, Steffi Krautz, Christoph Rothenbuchner und Stefan Suske – in Kostüme gesteckt, die zwischen Frack und Arbeitsanzug lavieren.

Schon von dieser optischen Anmutung her bleibt die jeweilige Figur nebulos, jede Aussage ungewiss, jedes Argument fragwürdig. Dem Grauen fehlt es beileibe nicht an Situationskomik. Man darf auch lachen, es bleiben rabenschwarze Abgründe genug. In einem weiten Spannungsbogen wird man hineingeführt in die Begebenheiten dieser dunklen Nacht, in der illuminierte Gäste der Gräfin gegen Mitternacht ausgerückt sind, um ihrer Jagdlust auf Menschen Luft zu machen. Vielleicht wurde danach ja wirklich weitergetanzt auf dem Schloss der Gräfin Batthyàny-Thyssen, das bald danach in Flammen aufgegangen ist.

Und da stehen wir jetzt also mit unserer recht jämmerlichen Vergangenheitsaufbereitung, wir, die wir darauf „stolz sind, als ob wir selbst erschossen worden wären … aber die Geschichte schweigt“. Es bleiben Implantate, Wissens-Flickwerk wie die Zahnkronen, die man sich jetzt in der Gegend, gleich über die ungarische Grenze, heutzutage so preisgünstig einsetzen lassen kann. „Wir alle werden gewusst haben, wie sich Eltern und Großeltern verhalten hätten sollen.“ Die Geschraubtheit von Vorvergangenheit und Vorzukunft, die Elfriede Jelinek da so exzessiv bemüht, sagt viel aus über den schwankenden Boden, auf dem wir uns bewegen.

Aufführungen bis 24. Mai - www.schauspielhaus-graz.com
Bilder: Bühnen Graz / Lupi Spuma

 

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