Lucretia, Professor und Studentin
WIEN / BRITTEN / THE RAPE OF LUCRETIA
22/02/11 Brittens 1946 in Glyndebourne uraufgeführte Kammeroper „The Rape of Lucretia“ entpuppt sich im Theater an der Wien in musikalischer und szenischer Hinsicht ein absolutes Kleinod.
Von Andreas Wegelin
Britten war durch seine Erlebnisse im Krieg ein glühender Pazifist geworden – man denke etwa an sein „War Requiem“. Er hat die erstmals bei Livius, später bei Shakespeare berichtete Geschichte von der geschändeten Lucretia geschickt mit seiner pazifistischen Botschaft verwoben. Lucretia ist die Gattin des römischen Feldherrn Collatinus, der gerade Krieg gegen die Griechen führt. Im Heerlager der Römer finden sich auch Tarquinius und Junius. Die Männer wetten um die Keuschheit ihrer Frauen während ihrer Abwesenheit im Heerlager. Einzig Collatinus‘ Frau Lucretia wartet zu Hause treu am Webstuhl auf ihren Gatten. Angestachelt durch die Untreue seiner eigenen Frau stiftet Junius Tarquinius an, die Treue der Lucretia in der folgenden Nacht auf die Probe zu stellen, wohl wissend, dass Tarquinius nicht ohne die Eroberung zurückkehren wird. Lucretia wird im Schlaf überrascht, und – da sie sich wehrt – schließlich vergewaltigt. Bei der Rückkehr ihres Gatten Collatinus ersticht sie sich, weil sie die Schande nicht aushält.
Wie auch in anderen seiner Opern führt Britten neben der Handlung noch eine zusätzliche Erzählebene ein. Da agiert ein zweites Paar (rollendeckend Kim Begley und Angel Blue) und erzählt die Geschichte aus christlicher Sicht. Der englische Regisseur Keith Warner schien dieser „predigthafte“ Bericht des Geschehens für heute unpassend. Er macht daraus die Geschichte einer Beziehung zwischen einem Geschichtsprofessor und seiner Studentin, die sich auch für Liebesdienste von ihm bezahlen lässt. Damit erhält das Werk eine zusätzliche Ebene in der Vieldeutigkeit und -schichtigkeit, die ihm bereits Britten mit seiner auf nur 13 Instrumente verteilten, aber ungemein farbigen Musik gegeben hat.
Das Klangforum Wien setzt unter der herausragenden musikalischen Leitung der jungen Engländerin Sian Edwards die Schilderungen der Zustände zuerst im Heerlager (bleierne Sommerhitze mit Grillengezirpe an der Harfe), dann im Hause Lucretias die Morgendämmerung (Vogelgezwitscher) mit äußerster Präzision um.
Die drei Soldatenrollen sind ausgezeichnet besetzt: Nathan Gunn gibt einen virilen Tarquinius, Markus Butter leiht dem Jago-ähnlichen Intriganten und Profiteur eine sehr differenzierte Stimme und Jonathan Lemalu gibt den enttäuschten, aber verzeihenden Ehemann Lucretias mit viel Noblesse. Auch die kleineren Rollen der Amme Bianca und der Dienerin Lucia werden von Jean Rigby und Anja Nina Bahrmann einfühlsam dargestellt.
Höhepunkt der Aufführung ist sicherlich das Lamento der Lucretia nach der Schändung durch Tarquinius, von Angelika Kirchschlager wunderbar gesungen und ähnlich einer Bachkantate im Orchester vom Solo-Englischhorn begleitet. Angelika Kirchschlager gelingt im Theater an der Wien eine zutiefst anrührende Gestaltung dieser im Innersten verletzten Frau. Sie macht aus dem kleinen Werk Brittens einen intensiven, stillen Abend. Das äußerst aufmerksame und gespannte Premierenpublikum dankte mit viel Jubel. Das Theater an der Wien hat mit dieser großartig umgesetzten Kammeroper eine wahre Alternative zum Flaggschiff Staatsoper gesetzt.