Überwältigend zeitlos
OPER GRAZ / TANNHÄUSER
08/10/24 Er wird als Wunderkind gehandelt. Als Shootingstar, der die Opernregie revolutioniert. Nach der grandiosen Tannhäuser-Premiere in der Oper Graz ist man geneigt, zuzustimmen. Evgeny Titov bringt Tannhäusers Geschichte von Sünde, Sühne und Erlösung geradezu konventionell auf die Bühne – und zugleich frisch durchlüftet und top modern. Ein rarer Operngenuss.
Von Heidemarie Klabacher
Im Kellerboden ein riesiges Loch. Halle und Gewölbe darüber im Halbschatten. Eine Eisentreppe steil nach oben. Unten im „Erdinneren“ – Höhle, Baustelle, Rückzugsort – genießen Venus und Tannhäuser die Freuden der Sünde. Noch. Denn der Sänger will wieder „hinauf“. Hat genug von Exzess und Rausch. Er sehnt sich nach der Rückkehr zu Ordnung und Konvention...
Regisseur Evgeny Titov drängt sich nicht auf. Nimmt die Geschichte beim Wort. Er erzählt scheinbar „nur“ die Story vom Minnesänger, der in der Lesart Titov freilich nicht mit Gesellschaft und Kirche um Vergebung ringt, sondern mit sich selbst und seinem Anspruch an sich selbst. Tannhäuser, der suchende moderne Künstler, den Wagner unter aller Erlösungssehnsucht ja wohl auch gemeint hat: Hier steht er vor uns. Die eindimensional idealisierende Sicht auf das Wesen Liebe, die Minnesänger-Kollege Wolfram im „Sängerkrieg auf der Wartburg“ darlegt, reicht schon aus, um in Tannhäuser den Widerstand gegen jene künstlerischen und sozialen Normen zu wecken, nach denen er sich gerade noch zu sehnen glaubte...
Im beeindruckenden Bühnenbild von Christian Schmidt, ohne Umbau oder Szenenwechsel, in den modern zeitlosen Kostümen von Esther Bialas, entfaltet Evgeny Titov Richard Wagners Legendenverschnitt in geradezu „klassischer“ Einheit von Ort und Handlung. Sogar die Zeit – die Monate in der Grotte der Liebesgöttin, sowie wie die der Pilgerfahrt nach Rom und retour – werden eingedampft auf intime Momente des Titelhelden. Sein Leben rauscht vorüber im Sinnes- oder Schaffensrausch.
Auf Elisabeth freilich lastet das volle Gewicht der realen Zeit. Sie hat sich nach Tannhäusers Verschwinden völlig aus der High Society/Kunstszene Thüringens zurückgezogen. Mit der Hallenarie beschwört Elisabeth einen kurzen Moment reinen Glücks. Dann outet sich Tannhäuser im Sängerwettstreit als Vertreter der puren Lust und Gast der Göttin Venus...
Die Sopranistin Erica Eloff macht die Partie der Elisabeth zum sängerischen und darstellerischen Herzstück der Produktion in der Oper Graz. Eine junge Frau, ein wenig schüchtern vielleicht, von liebenswürdigster Anmut, besingt mit der Hallenarie nicht allein die Location, sondern den Wieder-Eintritt in das Leben, das ihr nach der Heimkehr des heimlich Geliebten plötzlich wieder lacht: Die darstellerische Natürlichkeit von Erica Eloff wird nur übertroffen von ihrer sängerischen Perfektion, Facettenreichtum in Stimmfarbe und Silberklang in jeder Lautstärke oder Lage. Ob große Linie im Forte – und Erica Eloffs Forte ist wagerisch mächtig – ob intime Momente der Hoffnung oder der Verzweiflung: Jedem Augenblick, den Erica Eloff singt, eignet die gleiche deklamatorische Leichtigkeit. Überwältigend.
Samuel Sakker als Tannhäuser bewegt sich nicht ganz auf diesen lichten Wagnerhöhen. Darstellerisch gibt er überzeugend, da und dort gar abstoßend, den Künstler-Sünder auf Sinnsuche und Egotrip. Sängerisch wendet er, fast permanent, mehr Kraft auf, als eigentlich nötig wäre. Zumindest für den Zuhörer wirkt es so. Denn alles ist zu loben: Jede Höhe sitzt, jede Linie ist stringent, sinnfällig und eloquent phrasiert, so gut wie jedes Wort verständlich. Doch zuviel Druck auf die Stimmer verhindern die Entfaltung – einzelne Momente in Mittellage machen es deutlich – des eindeutig vorhandenen facettenreicheren Timbres.
Das Grazer Philharmonische Orchester brilliert unter der Leitung seines Chefdirigenten Vassilis Christopoulos mit Wagner'scher Opulenz in den „weltlich-irdischen“ wie die „geistlich-mythischen“ Szenen. Brillant schmetternde Fanfaren, samtweiche Bläserchoräle und stupend musizierte Soli füllen Raum und Herz. Dabei sind die Instrumentalisten jeden jeden Moment bereit, den deklamatorischen Qualitäten des Solisten-Ensembles eine beredte, ja klangrednerische Dialogbasis zu bieten. Kammermusikalische Transparenz bei Wagner ist (noch immer) keine Selbstverständlichkeit. Gespielt wird übrigens eine Mischfassung aus Wagners Dresdner und Pariser Fassungen.
Die mittleren und kleineren Rollen sind perfekt gecastet. Allen voran, „naturgemäß“ möchte man sagen, Wilfried Zelinka als Minnesänger und Landgraf Hermann à la Thomas Hamspon At His Best. Gefolgt von Nikita Ivasechko als träumerischer sanftstimmiger Wolfram und Mareike Jankowski als stimmlich wie darstellerisch betörende Frau Venus.
Die weiteren Minnesänger, Walther von der Vogelweide (Ted Black), Biterolf (toll mit seinem kämpferischen Loblied auf die Liebe: Markus Butter), Heinrich der Schreiber (Euiyoung Peter Oh) und Reinmar von Zweter (Will Frost) bilden zusammen mit dem Landgrafen ein homogen und textverständlich singendes Sextet, eine kleine Truppe an Tempomachern: Sie bringen Leben die Bude. Pardon. In die „treue Halle“. Chor, Extra- und Zusatzchor der Oper Graz, einstudiert von Johannes Köhler, betören mit mächtiger aber immer kontrollierter und homogener Klangpracht. Ob als strahlende Festgemeinde auf der Wartburg, als büßender Pilgerchor aus dem Off, ob Forte oder Piano, immer zeigt sich hohe Chorkultur. Das Finale singt der Chor von den obersten Balkonreihen herab – mit überwältigender Wirkung.
Tannhäuser – Aufführungen in der Oper Graz bis 8. Jänner 2025 – oper-graz.buehnen-graz.com
Bilder: Oper Graz / Werner Kmetitsch