Der Himmel steht wohl offen
GRAZ / LA STRADA
31/07/24 Das sitze ich in einem Holzverschlag auf der Kanonenbastei auf dem Grazer Schlossberg, luftdicht eingepackt in ein Ding, das man als Mischung zwischen Astronautenanzug und Erdäpfelsack bezeichnen könnte. Nur der Kopf schaut heraus. Und dann beginnt die Luftpumpe zu surren.
Von Reinhard Kriechbaum
Liebliche Melismen zweier Frauenstimmen sorgen für Wohlfühl-Stimmung, aber es wird doch ungemütlich eng im Anzug. Ein Vakuum wird erzeugt. Wenn die Luft draußen ist, drückt das recht ordentlich. Dann gehen zwei Türen auf, und man blickt auf die Ziegeldächer der Altstadt und weit drüber hinaus, auch zum Flughafen. Warum Vakuum? Warum nicht mit Helium aufblasen und kurz hochfliegen? Das geht mir durch den Kopf. Aber es wird schon seine Richtigkeit haben, dass die Regisseurin Boukje Schweigmann und der Performer Johannes Bellink keine Flugfreigabe bekommen für ihr Publikum. Schuster bleib bei deinem Leisten! Inside Out zielt auf Körperwahrnehmung ab. Haut mich nicht vom Hocker, ginge auch nicht, wegen der dicken Vakuumverpackung. Die zwanzigminütige Aktion ist exklusiv, jeweils für zwei Personen.
Solche Selbsterfahrungs-Performances gibt es jedes Jahr beim Grazer Straßenkunstfestival La Strada. Neben Nouveau Cirque ist nämlich der (möglichst ungewohnte) Blick auf die eigene Stadt ein Thema, und manche Produktion wird gezielt für den jeweiligen Aufführungsort entwickelt. In situ heißt ein internationales Netzwerk, dem man angehört und innerhalb dessen man sich austauscht.
Das so recht Publikumswirksame sind freilich die Freiluft-Aktionen: Einfach zum Totlachen, wenn sich die Musik-Artisten der französischen Zirkustruppe Cheptel Aleïkoum zu acht auf zwei Fahrrädern abmühen. Das OctOpus gelingt, mitsamt Blas- und Schlaginstrumenten. Alles eine Frage des Schlichtens und des Gleichgewichts.
Auch der Spanier Joan Català hat Musik im Sinn, aber zuerst kommt er scheinbar recht tollpatschig mit gut zwei Dutzend Metallstangen daher. An Fäden aufgehängt in einer schattigen Waldecke des Parks vor der Musikuniversität, werden sie sich als Röhrenglocken erweisen. Idiòfona ist eine mit viel Action aufgepeppte Musikanimation, an der das Publikum sich mit größter Begeisterung beteiligt. Joan Català hat einen guten Blick für Menschen und er weiß sich auch zu helfen, wenn sich einer der Freiwilligen aus dem Publikum zu sehr als Akteur hervortun möchte.
Allerlei Musik hat auch der Cirque Aïtal anzubieten. Vor vierzehn Jahren war diese eigentümliche Truppe – g'standene, stämmige Mannsbilder und eine zierliche Artistin – schon mal beim Salzburger Winterfest zu Gast. Was für ein Setting: In der warmen Jahreszeit baucht's kein Zirkuszelt. Die Manege ist bloß mit einer Plane überspannt. À Ciel Ouvert heißt die Produktion folgerichtig. Rundum Wohnwagen, die teils zu kleinen Zuschauer-Logen umgebaut sind. Und dann geht’s mit Karacho los, Menschen mit umgehängten Glocken werden herumgetrieben wie eine Schafherde. Hühner, später auch Gänse und dressierte weißen Tauben bevölkern die Spielfläche. Ein Hühne nimmt den Kontrabassisten hops, und der spielt ungerührt weiter. Dem Geiger ergeht es nicht anders. Was sie nicht alles aufführen mit- und gegeneinander!
Die junge Dame, die sich zuletzt als famose Artistin an der Stange und als tolle Saltodreherin auf dem Schleuderbrett erweisen wird, wäscht und trocknet Porzellanteller ab um sie gleich drauf zu zerschlagen. Warum bloß? Was geht hier vor, steckt ein System hinter dem Chaos? Die vier Leute gehen schließlich doch liebevoll um, nicht nur mit dem Federvieh, sondern auch miteinander. „Inside – outside“, betont die Frau wieder und wieder. Und so, wie die Poesie kaum merklich zunimmt, werden wir mancher Fäden zwischen den Menschen gewahr. Die sagenhafte Melancholie, die aus einer Gesangsnummer herauswächst und in einen artistischen Act an der Stange mündet, ist anrührend. Und ja, der Himmel steht wohl offen.
Poesie völlig anderer Art setzt die italienische Choreographin Valentina Moar mit zwei Tänzerinnen und einem Tänzer, einem Computer-Animateur (Paolo Scoppola) und einem Komponisten (Bojan Vuletic) in ICE – UTOPIA in Szene. Das Verschwinden des Gletschereises, das aus der Erstarrung in Bewegung Kommen ist der Ausgangspunkt für ein eindrucksvolles Körper-Theater, zu dem als weitere Ebene interaktive Computer-Animationen als Hintergrundprojektionen treten. Höchst einprägsam die Körperbeherrschung von Gloria Ferrari, Dafne Secco und Xianghui Zeng, sowohl als Solisten, vor allem aber in intensiv gebauten Dreier-Konstellationen. Da ist das „Auftauen“ überhaupt, das Erspüren von Bewegung, einem (noch) fremdartigen Zustand. Kleine Impulse werden von Körper zu Körper weitergegeben. Will man die eisige Erstarrung beibehalten oder lässt sich der neuen Motorik auch Positives abgewinnen?
Die Live-Kamera erfasst die Konturen der Tanzenden, die auch als Schatten scheinbar mit sich selbst, ihrem virtuellen Alter Ego in Kontakt treten. Das hat Stil und Perfektion.
La Strada dauert bis Sonntag (4.8.) – www.lastrada.at
Bilder: La Strada Graz / Nikola Milatovic (1); Mario del Curto (1); Martin Hauer (2); dpk-krie (1)