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Auf Spurensuche in Sibirien

BREGENZER FESTSPIELE / SIBIRIEN

22/07/22 Umberto Giordanos selten aufgeführte Oper Sibirien ist die überraschende Ergänzung zu Giacomo Puccinis Madame Butterfly und steht heuer neben dem Puccini-Klassiker auf dem Programm der Bregenzer Festspiele.

Von Oliver Schneider

Ein bisschen sind sie wie Stiefschwestern, Puccinis Madame Butterfly und Giordanos Sibirien. Beide wurden in der Saison 1903/04 an der Mailänder Scala mit den gleichen Sängern uraufgeführt und stammen vom gleichen Librettisten. Die ursprünglich für die Saisoneröffnung geplante Erstaufführung von Madame Butterfly musste damals verschoben werden, weil Puccini nach einem Autounfall mit der Komposition in Verzug geraten war, sodass Sibirien zum Zug kam und – anders als zwei Monate später die Butterfly – zumindest einen Ersterfolg beim Publikum erzielte. Auch beim Bregenzer Publikum stieß die Rarität am Donnerstag auf großen Anklang. Zum acapella-Männerchor erfahren wir filmisch, dass eine ältere Frau 1992 aus dem winter-milden Rom mit einer Urne – die Asche ihres verstorbenen Bruders – nach Russland fliegt, um nach ihren russischen Wurzeln zu suchen. Über St. Petersburg geht es nach Sibirien, wohin ihre Eltern in ein Straflager bei der Transbaikal-Mine verbannt worden waren.

Mit dieser Rahmenhandlung zoomt Regisseur Vasily Barkhatov die vorrevolutionäre Liebestragödie zwischen der St. Petersburger Kurtisane Stephana und dem jungen Offizier Vassili, der aus Eifersucht den reichen Fürsten Alexis verletzt und dafür in ein russisches Straflager verbannt wird, an unsere Gegenwart heran. Stephana gibt ihr bisheriges Leben auf, folgt Vassili und stirbt bei einem gemeinsamen Fluchtversuch in seinen Armen. Es ist eine Mischung aus Traviata, Manon Lescaut und Aus einem Totenhaus, inspiriert von Tolstois Auferstehung – unterlegt mit veristischem Breitwandsound voller Leidenschaft und Dramatik, gemischt mit Anklängen an russische Volks- und Kunstmusik. Dirigent Valentin Uryupin am Pult der engagierten Wiener Symphoniker lässt in Bregenz die russischen Anklänge, Zitate, Klangfarben und Harmonien plastisch hervortreten, was den Abend zu einem runden Ganzen macht.

Dadurch, dass Uryupin auch in den großen Szenen zwischen Stephana und Vassili weniger auf balsamischen Schönklang setzt, unterstreicht er musikalisch die fehlende Zukunftsperspektive des kurzen Glücks der beiden Menschen. Dank der Rahmenerzählung bekommt der Abend schlussendlich einen – aus Sicht des heutigen Zuschauers – versöhnlichen Schluss. Ist die Italienerin mit russischen Wurzeln (Clarry Bartha) zunächst nur im Video zu sehen, so wird sie im Laufe des Abends selbst zur zentralen Person des zweiten Handlungsstrangs.

Das Leitungsteam hat ihr auch musikalisch einen Platz eingeräumt, indem sie eine kurze Stelle aus Stephanas Gesangspart übernehmen und weitere kleine Rollen vereinen darf. In St. Petersburg sucht sie die frühere großbürgerliche Wohnung ihrer verstorbenen Mutter Stephana auf und erlebt im Traum, wie sich Vassili und der reiche Liebhaber ihrer Mutter, Fürst Alexis (mit Schmelz Omer Kobiljak) streiten und Vassili Alexis verletzt. Und wie Stephana von ihrem früheren Geliebten und jetzt Zuhälter Gleby zu ihrem Leben als Kurtisane gezwungen wird. Immer wieder versucht sie das Schicksal aufzuhalten. Erfolglos. Eingreifen kann sie erst, wenn sie nach langer Reise mit der transsibirischen Eisenbahn im postsowjetischen Gulag-Archiv nach den Spuren ihres bestraften Vaters sucht. 1992 befindet sich an der Stelle des Lagers ihrer Eltern zwischen trostlosen Plattenbauten ein Kinderspielplatz...

Hier ist die Frau am Ziel ihrer Reise angekommen und verstreut die Asche ihres verstorbenen Bruders am vermeintlichen Elterngrab. Im dritten Akt besitzen die Oper an sich und die Bregenzer Produktion szenisch und musikalisch die stärksten Momente. Gleby, ebenfalls nach Sibirien verbannt, zerstört endgültig das Glück von Stephana und Vassili, indem er den Wachen ihren Fluchtversucht verrät. Scott Hendricks liegt der Mix zwischen einem teuflisch-schwarzen Jago und schleimigen Heiratsvermittler Goro aus Puccinis Madame Butterfly vortrefflich. Ambur Braid als Stephana und Alexander Mikhailov loten die ganze Tragik ihrer Situation expressiv aus. Während Braid zu Beginn des Abends noch mit Startschwierigkeiten kämpfte, konnte Mikhailov von Anfang an mit schönem Legato, strahlenden Höhen und vielen Zwischentönen punkten. Perfekt vorbereitet war einmal mehr der Prager Philharmonische Chor (Einstudierung Lukáš Vasilek), der in der nachempfunden christlich-orthodoxen Osterzeremonie mit seinem Christo è risorto einen besonders eindringlichen Moment gestaltet.

Sibirien – weitere Vorstellungen 24. Juli und 1. August – bregenzerfestspiele.com
Bilder: Bregenzer Festspiele / Karl Forster

 

 

 

 

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