Dunkle Wolken über dem Atlantik
REST DER WELT / BREGENZ / DIE PASSAGIERIN
23/07/10 Ergreifende szenische Erstaufführung 42 Jahre nach der Vollendung von Mieczyslaw Weinbergs Oper „Die Passagierin“ zur Eröffnung der Bregenzer Festpiele.
Von Oliver Schneider
Auf der Bühne hat der 1941 rechtzeitig aus Warschau vor den Deutschen geflohene Komponist und Pianist Mieczyslaw Weinberg sein musikdramatisches Hauptwerk „Die Passagierin“ nie erlebt. Erst zehn Jahre nach seinem Tod fand in Moskau die konzertante Uraufführung statt, denn obwohl Weinberg sich vor den Nazi-Schergen hatte retten können, so war er aufgrund seiner jüdischen Abstammung auch in der UdSSR immer wieder Verfolgung und Ausgrenzung ausgesetzt.
Das Libretto der „Passagierin“ nach dem gleichnamigen Roman der polnischen Auschwitz-Überlebenden Zofia Posmysz erzählt, wie die deutsche Diplomatengattin Lisa auf der Schiffsreise mit ihrem Mann nach Brasilien von ihrer Vergangenheit als Aufseherin im KZ Auschwitz eingeholt wird. Die polnische Gefangene Martha, deren Liebe zu Mitgefangenen Tadeusz als zweiter Strang thematisiert wird, hat das Martyrium überlebt und zwingt allein durch ihre stumme Präsenz Lisa dazu, sich mit ihrer Vergangenheit in Rückblenden auseinanderzusetzen.
David Pountney und seine Ausstatter (Bühne: Johan Engels, Kostüme: Marie-Jeanne Lecca) haben sich für eine librettogetreue Umsetzung entschieden. Alles andere hätte dem zeithistorisch verhafteten Werk wohl seine betroffen machende Wirkung genommen. Die Szenen spielen auf einer Einheitsbühne abwechselnd auf dem eleganten weissen Ozeandampfer in den sechziger Jahren und im dunklen KZ, das unter dem Dampfer angesiedelt ist. Das erlaubt schnelle Szenenwechsel, zeigt aber vor allem, dass sich Gegenwart und Vergangenheit nicht trennen lassen. Deklamiert und gesungen werden je nach Personenkonstellation in deutscher oder russischer Sprache.
Als Lisa ihrem Mann ihre dunkle Vergangenheit beichtet, ist er entsetzt. Aber nicht aus moralischen Gründen, sondern weil er Angst um seine Karriere hat, was symptomatisch für die bis dahin noch nicht begonnene Vergangenheitsbewältigung im damaligen Deutschland ist. Auch Lisa sucht sich nur mit ihrer menschenverachtenden Pflicht für den Führer zu rechtfertigen, obwohl sich der Männerchor von der Seite (klangstark der Prager Philharmonische Chor, einstudiert von Lukáš Vasilek) immer wieder als ihr schlechtes Gewissen meldet.
Martha ist wie Lisa eine starke Frau, die sich dem Willen der wenige Jahren älteren Deutschen im KZ nicht beugen wollte. Wenn Lisa beteuert, dass sie Martha und ihrem Verlobten Tadeusz helfen wollte, so geschah dies nur aus Eigennutz, nicht des Helfens wegen.
Mieczyslaw Weinbergs Musik steht, das ist nicht zu überhören, in Schostakowitsch-Nachfolge. Hart und kompromisslos klingt die grausame Lagerrealität, unbarmherzig atonal reisst das Gewissen Lisa aus der heilen Welt des Ozeandampfers, in der man Weinberg als Filmmusikkomponisten und Jazzeinflüsse entdeckt. Doch im Lager gibt es auch lichte, lyrische Momente. In den Nächten in der Frauenbaracke, wenn sich Freundschaften entwickeln, Erinnerungen oder Hoffnungen auf bessere Zeiten ausgetauscht werden. Ein bisschen erinnern diese retardierenden Momente an Poulencs „Dialogues des Carmélites“ und Janá?eks „Totenhaus“.
Mit dem jungen griechischen Dirigenten Teodor Currentzis am Pult wissen die Wiener Symphoniker das facettenreiche Bild der Partitur mit ihren scharfen Gegensätzen klar zum Ausdruck zu bringen und ein wichtiges Plädoyer für den Komponisten Weinberg zu halten. Das Gleiche gilt für die Besetzung, die darstellerisch und stimmlich keine Wünsche übrig lässt. Beherrscht wird die Bühne von den beiden Widersacherinnen: Michelle Breedt als Lisa mit durchschlagskräftigem Mezzosopran und Elena Kelessidi als expressiver Martha mit wunderbarer Pianokultur. Ein Abend, der trotz einiger Längen unter die Haut geht.