Der Käfig war schon immer voller Narren
OPER GRAZ / IL VIAGGIO A REIMS
13/04/18 Der stolze Spanier. Die modische Pariserin. Der kaisertreue Russe. Der korrekte Deutsche. Die römische Sybille. Der schrullige Engländer: Für sie alle wird das „Hotel zur weißen Lilie“, gedacht als Raststation auf dem Weg zur Krönung in Reims, zur Endstation. So bleibt man unter sich, zelebriert auf kleinstem Raum lodernde Emotion – und feiert ein gemeinsames Europa. Ein verrückter „bunter Abend“ voller sängerischer Spitzenleistungen.
Von Heidemarie Klabacher
Solche Qualen hat die Welt noch nicht erduldet: Die Kutsche ist umgefallen, das Gepäck ruiniert, Roben und Hüte zerdrückt: Die Contessa di Folleville, eine Art Fashionista des frühen 19. Jahrhunderts, dreht durch – und die Sopranistin Elena Galitskaya hebt an zu einer Bravourarie, würdig der höheren Gefühle einer verlassenen Ariadne oder einer gestürzten Kaiserin.
Im Zimmer daneben spielt sich ein Eifersuchtsdrama ab zwischen russischem General (Miloš Bulajić), spanischem Granden (Ivan Oreščanin) und polnischer Marchesa (Anna Brull). Weitere Anwesende versuchen, das Pistolenduell zu verhindern: Es entwickelt sich ein grandioses Vokalensemble, das jenen einer „Così“ oder eines „Figaro“ an satztechnischer Kunstfertigkeit und sängerischen Herausforderungen kaum nachsteht.
Zum Glück klingt durch Gänge alsbald ein lieblicher Gesang zur Harfe – und die Meute stürzt weiter ins nächste Zimmer: Corinna, laut Libretto eine „römische Improvisationskünstlerin“, ist in der spritzig-witzigen aktuellen Produktion der Grazer Oper eine griechische Dichterin. Die Sopranistin Tetiana Miyus plätschert im Bade als Schaumgeborene und singt das wundersame Lied über die Freuden der Liebe mit obligater Harfe, welches sich leitmotivisch durch die ganze Oper zieht. Die Soloharfenistin spielt, im griechischen Gewande, auf der Bühne, wie später auch die virtuose Soloflötistin, die als Stubenmädchen kostümiert, die Liebesergüsse des als Prinz Harry verkleideten Modeschöpfers Lord Sidney begleitet: Peter Kellners profunder Bass steht in reizvollem Kontrast zu seinem wuseligen exaltierten Gehabe, mit dem er den Festsaal im Hotel zur Schneiderei werden lässt. Denn ihm reicht es nicht, der Angebeteten täglich eine Blume zu überreichen. Nein! Das ganze weibliche Hotelpersonal – die Damen des von Bernhard Schneider wie immer hervorragend einstudierten Chores der Oper Graz – werden in opulente Blumenkostüme gesteckt. Opera Seria nix dagegen.
Kein Wunder, dass der korrekte Deutsche in der Runde (Neven Crnić als Barone di Trombonok) die ganze Welt als Käfig voller Narren bezeichnet: „Sì, di matti una gran gabbia.“ Viel Lärm, Aufwand und Wirbel um tatsächlich gar keine Handlung! Je klarer wird, dass keine Kutsche kommt, keine Pferde aufzutreiben sind, die Reise versanden wird, umso hektischer wird das Getriebe, das ohnehin von der ersten Szene an am Heißlaufen ist.
Unter der musikalischen Leitung von Oksana Lyniv wird die Musik von Gioachino Rossini, der sich in seiner letzten italienischsprachigen Oper einmal mehr ausschließlich selbst zitierte und sich dabei selber übertoffen hat, zum temperamentvollen dauer-funkenschlagenden Kontrast zur statischen Handlung. Alles rast und tobt und bleibt doch auf dem Fleck. Wie im Comic. Das Bühnenbild von Friedrich Eggert ist ganz einfach ein Hotel, dessen Gänge, Zimmer und Säle auf der Drehbühne vorüberziehen und Weite suggerieren.
Regisseur Bernd Mottl entfaltet jede der insgesamt zehn Haupt- und zahlreichen Nebenrollen zu scharf aber liebenswürdig überzeichneten Nationalitäten-Porträts. Er verzichtet auf Doppelbödigkeiten, unterwirft die Szene ganz einfach mit Grandezza der Musik Rossinis, der die Nationalcharaktere weidlich kompositorisch persifliert: mit russischen oder spanischen Liedzitaten, einer Polonaise, „unserer“ Kaiserhymne als Lobgesang auf die Harmonie oder „God Save The King“. Tirolerisch geschuhplattelt wird auch. Dass sich das gemeinsame Fest der Festsitzenden zu einer überbordenden Feier für ein vereintes Europa auswächst, ist in unseren Tagen des wieder erwachenden Nationalismus ein gar nicht gering zu schätzendes Statement.
Rossini hat „Il viaggio a Reims“ übrigens aus historischem Anlass komponiert, zur Feier der Krönung von Karl X. in Reims anno 1824. Dieser, ein Enkel, Ludwigs XV. floh nach der Hinrichtung seines ältesten Bruders Ludwigs XVI. und seiner Schwägerin Marie-Antoinette im Januar 1793 nach England. Nach einem kurzen Intermezzo des nächsten Bruders als König, folgte also Karl X.: „Lieber Holzhacken“, soll er gesagt haben, als König sein unter den Bedingungen, wie der gekrönte Kollege in England. Die wundersame Huldigung, die Rossini der Corinna in den Mund gelegt hat, verdient der Kerl gar nicht. Karls ignorante Dummheit führte direkt zu Juni-Revolution und Abdankung. Aber ohne Madmoiselle de Guillotine. Diese darf zwar „Auf der Reise nach Reims“ auch mitspielen, dient aber nur als billige Staffage für die exaltierten Selbstmorddrohungen des #metoo-verdächtigen Cavaliere Belfiore... Chapeau und Bravi – für alle Verfechterinnen und Verfechter dieses verrückten liebenswürdigen und vermutlich wohl leider unerreichbaren „vereinten“ Europa.
Il viaggio a Reims – acht weitere Aufführungen in der Oper Graz bis 10. Juni – www.oper-graz.com
Bilder: Oper Graz/Werner Kmetitsch