Das große Tor von Kiew
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11/03/22 Welcher Musikfreund hätte zu diesem Tor – gemeint ist das Goldene Tor – nicht Modest Mussorgskijs Bilder einer Ausstellung im Ohr? Die meisten Menschen im Westen denken nicht an den eher selten gespielten, originalen Klavier-Zyklus. Ihnen ist die Instrumentierung von Maurice Ravel viel vertrauter.
Von Reinhard Kriechbaum
Eine Ironie der Geschichte und jetzt eines der anschaulichsten Beispiele, was für ein Wahnsinn sich derzeit im Kriegsland Ukraine abspielt. In einem der bekanntesten Musikstücke der slawischen Musikliteratur haben ein Russe und ein Franzose eben jenem „Goldenen Tor“ zur Unsterblichkeit in den Konzertsälen verholfen – einem der Wahrzeichen der ukrainischen Hauptstadt.
Es gibt dieses „große“ beziehungsweise „goldene“ Tor. Es steht jetzt ziemlich einsam, aber mächtig da. Man kann sich gut vorstellen, wie die Befestigung der Stadt einst ausgesehen hat. Ein 3,5 km langer massiver Erdwall, mit Mauern und wehrhaften Holzaufbauten.
Drei Tore führten im Mittelalter in die Stadt. Ihre Namen spiegeln höchst anschaulich die Geschichte des Landes: das Jüdische Tor (Židovskie), das Polnische Tor (Ljadskie) und eben das Goldene Tor (Zolotye). Das Polnische Land gab nicht nur eine geographische Richtung an, immerhin gehörte eine ansehnliche Fläche der heutigen Ukraine zu Polen. Länger, als zu Russland, aber wer da nun Jahrhunderte gegeneinander aufrechnet, kommt schnell ins Fahrwasser nationalistischer Argumentation, derer sich auch der Aggressor Putin bedient, wenn er jetzt immer wieder die Geschichte der Ukraine aus seiner Sicht darlegt.
Mindestens ebenso Identität stiftend war das Jüdische Tor. Die Stetl-Kultur prägte die Region nicht minder als polnische und eben russische Einflüsse. Das „Goldene Tor“ schließlich war für Ukrainer wie Russen quasi ein Identifikationsort. Darum war es im Lauf der Geschichte nie bloß Stadttor, sondern ein Bauwerk, das auch der Repräsentation diente. Mussorgskij wusste, warum er ihm in den Bildern einer Ausstellung den repräsentativen musikalischen Schlusspunkt einräumte. Durch dieses Tor ist 1648 der ukrainische Freiheitskämpfer Bogdan Chmelnitzku ebenso eingezogen wie 1654 jene russischen Armeen, die Kiew wieder dem Zarenreich zurück erkämpft hatten. Mussorgskij hat sein Musikstück nicht zufällig Богатырские ворота genannt, wörtlich übersetzt „Heldentor“.
Das Tor mit eindrucksvollen Abmessungen – 7,5 Meter Breite und 25 Meter lang – war auf Anordnung des Kiewer Großfürsten Jaroslaw des Weisen von 1017 bis 1024 erbaut worden. Als Muster diente das Goldene Tor von Konstantinopel. Um dieselbe Zeit hat man auch die Kiewer Sofienkathedrale erbaut, als geistlichen Gegenpol zur byzantinischen Hagia Sophia: Tor und Kirche sind die beiden mächtigsten erhaltenen baukulturellen Marken der Kiewer Rus, von denen die (orthodoxe) Christianisierung Osteuropas ausging.
Im 18. Jahrhundert hatten das Goldene Tor als Befestigung weitgehend ausgedient, es verfiel und wurde mit Erdreich überdeckt. Erst im 19. Jahrhundert, mit dem Wiedererwachen des Nationalbewusstseins überall in Europa, hat man sich an die archäologische Erforschung des Terrains und schließlich an den Wiederaufbau gemacht. Erst 1982, zum 1500-Jahre-Jubiläum von Kiew, war das Goldene Tor vollständig rekonstruiert.
Wieso steht eine Kirche auf dem Stadttor mit seinen Zinnenmauern? Das hatte mit weltlicher und geistlicher Propaganda zu tun. Es ist ja keine neue Entwicklung, das der russisch-orthodoxe Patriarch von Moskau und der Potentat, derzeit eben Putin, letztlich eins sind (und ersterer deshalb den derzeitigen Invasionskrieg keineswegs verurteilt, was derzeit auch den ökumenischen Dialog in Europa nachhaltig irritiert). Jaroslaw der Weise ließ über dem aus mächtigen Ziegelmauern gefügten Tor die kleine Kirche Mariä Verkündigung bauen. Die vergoldete Kuppel gab dem Bauwerk schließlich den Namen.