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HINTERGRUND / PAUL WITTGENSTEIN
04/12/12 Dass es vergleichsweise viele Klavierwerke für die linke Hand gibt – das liegt zu einem Gutteil an Paul Wittgenstein (1887-1961). Der vor 125 Jahren in Wien geborene einarmige Pianist gab fast drei Dutzend Kompositionen in Auftrag.
Von Horst Reischenböck
Paul Carl Hermann Wittgenstein, dem zwei Jahre älteren Bruder des Philosophen Ludwig, musste während des 1. Weltkriegs der rechte Arm amputiert werden. Vor 125 Jahren in Wien geboren (Wikipedia moniert den 11. Mai, das Lexikon MGG gibt den 5. November 1887 an), wäre heuer auf jeden Fall Anlass gewesen, sich speziell bei uns an ihn zu erinnern.
Wittgenstein war unter anderem von dem mit Franz Liszt befreundeten Theodor Leschetizky unterrichtet worden, der wiederum selbst bei Beethovens Schüler Carl Czerny studiert hatte. Er wollte sich nun nicht von seinem Schicksal unterkriegen lassen und konzertierte nach intensivem Training seiner Linken trotz Missbilligung seiner Familie weiterhin in der Öffentlichkeit.
Hatte Johannes Brahms die große Chaconne aus Johann Sebastian Bachs d-Moll-Partita BWV 1004 für Klavier für die linke Hand allein transkribiert, so schuf der Liszt-Schüler Graf Géza Zichy 1902 das erste vollwertige Klavierkonzert für die linke Hand. Zwanzig Jahre später wandte sich Wittgenstein vorerst an Erich Wolfgang Korngold, der ihm unmittelbar nach seinem Opernerfolg „Die tote Stadt“ ein Konzert in Cis op. 17 komponierte: unter dem Aspekt, die Illusion des Spiels zweier Hände mit dem Einsatz eben nur einer einzigen zu erzielen. Der Auftraggeber hat dieses Werk dermaßen geschätzt, dass er bei Korngold dann noch die Suite für linkshändiges Klavier und Streicher op. 23 bestellte.
Da Wittgenstein sich für alles ihm Geschriebene das alleinige Aufführungsrecht vorbehielt, wurden diese Werke erst spät wieder gespielt und manches überhaupt unter Verschluss gehalten, wie die erst nach Paul Wittgensteins Tod im Archiv entdeckte, und 2004 in Berlin uraufgeführte Klaviermusik mit Orchester op. 29 von Paul Hindemith. Zu diesem Stück hatte Wittgenstein wohl keinen Zugang gefunden, wie auch zu Sergej Prokofjews noch immer selten zu hörendem Konzert Nr. 4 in B-Dur op. 53. Wittgenstein bedankte sich zwar, schrieb jedoch: „… ich begreife nicht eine einzige Note davon und werde es nicht spielen.“ So erblickte es erst 1956, ein Jahr nach Prokofjews Tod, im damaligen Ost-Berlin das Licht der Welt. An Jenö Takacs schickte Wittgenstein dessen Toccata und Fuge überhaupt unaufgeführt zurück…
Wittgensteins spätromantisch geprägtes Idol mag Franz Schmidt gewesen sein. Seiner Feder entsprangen zwischen 1926 und 1938 drei Quintette, die Konzertanten Variationen über ein Thema von Beethoven, ein in Es-Dur stehendes Klavierkonzert und eine Toccata Piano solo. Sie spielte Wittgenstein auch später noch in seinem Exil in den USA. Richard Strauss wiederum schuf ihm nebst Übungen das Parergon zur „Sinfonia domestica“ op. 73 und den „Panathenäenzug“ op. 74 als symphonische Etüden in Form einer Passacaglia, Benjamin Britten seine „Diversions“. Während sich Wittgenstein mit Maurice Ravel zerkriegte, modifizierte er doch den Solopart in dessen Konzert – das bekanntest gebliebenes Opus für die linke Hand – eigenmächtig um.
Insgesamt 35 Kompositionen honorierte Wittgenstein, wert, sich auf die Suche danach zu machen. Manche davon, wie das Klavierkonzert von Sergej Eduardowitsch Bortkiewicz, sollten auch schon längst wieder der Vergessenheit entrissen werden!
Übrigens: Auch der ab 1953 am Mozarteum lehrende Kurt Leimer komponierte ein einsätziges Konzert für Klavier (linke Hand) und Orchester. War doch während seines Kriegseinsatzes einem Studienkollegen durch eine Granate der rechte Arm abgerissen worden. Die Qualität dieses Werks unterstreicht nicht zuletzt die 2005 wieder aufgelegte Aufnahme seitens des Komponisten zusammen mit dem Philharmonia Orchestra London unter Herbert von Karajanm der dazu anmerkte: „Leimer hat eine Technik, die einen glauben macht, das Konzert sei für beide Hände komponiert.“