Zeitgenössische Musik und viele Missverständnisse
IM WORTLAUT / VORTRAG / WOLFGANG DANZMAYR
09/08/12 Wolfgang Danzmayr, Musik-Journalist, Komponist und Dirigent, hielt gestern Mittwoch (8.8.) beim Symposium 2012 der "Internationalen Schulmusikwochen Leo Rinderer" im Heffterhof vor Musiklehrern einen Vortrag über zeitgenössische Musik. Aber was ist „zeitgenössische“ Musik – und wer bewertet sie nach welchen Kriterien?
Von Wolfgang Danzmayr
Der Begriff „Neue Musik“ – mit dem großen N – war in seinen Anfängen eine gewichtige Kampfansage einer Gesellschaft gegenüber, die Neues und Ungewöhnliches in der Kunst zu vermeiden versuchte, wo es nur ging.
Es war damals noch am Beginn des 20. Jahrhunderts die Initiative des Komponisten Rudolf Réti, am 11. August 1922 – also vor fast auf den Tag genau 90 Jahren! – hier in Salzburg, nämlich im Café Bazar, gemeinsam mit so bedeutenden Komponisten wie Bartók, Berg, Hindemith, Honegger, Ravel, Respighi, Schönberg, Webern, Wellesz und anderen die IGNM – die Internationale Gesellschaft für Neue Musik also – zu gründen, die sich dem Fortschritt und der Innovation verschrieb.
Heute – ein knappes Jahrhundert danach – ist der Begriff ‚Innovation’ auf dem Weg, zu einer allzu einseitig wie geradezu diktatorisch akklamierten Worthülse zu verkommen. Denn die im Umfeld eines Spätkapitalismus mit ihren ökonomisierten Auswüchsen alles beherr-schende Technokratie erfordert inzwischen ganz andere künstlerische Antworten, wie nicht nur ich meine. Zumindest in der IGNM selbst ist man sich dessen bewusst, dass in Fragen heutiger Kunstmusik eine Neupositionierung längst fällig ist. Die Praxis hat die Theorie jedenfalls schon überholt, wie viele Projekte und Aktivitäten der jüngeren Generation zeigen.
Ich behaupte, dass unsere Kultur einem fatalen Missverständnis aufgesessen ist, welches noch immer einem aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts übernommenen, vor-nehmlich intellektuell gesteuerten Technokratie-Wahn samt maßloser Fortschrittsgläubigkeit huldigt, auch wenn warnende Stimmen von niemandem mehr überhört und damit einfach ignoriert werden können. Freilich ist diese verharrende Haltung in gewissem Sinn auch wieder sehr verständlich, galt es doch als höchst notwendig für die zu Reflexion fähige Intelligenzia, gegen sentimentalisierendes, faschistoides Gedankengut, welches bis heute spürbar und latent vorhanden ist, eine noch deutlichere Position einzunehmen als in Zeiten eines Schönberg-Kreises.
Doch wir müssen noch viel weiter zurückschauen.
So bedeutsam die Eigenwilligkeiten eines Joseph Haydn anmuten, und Wolfgang Amadé Mozart gegen Konventionen in seinem nicht nur künstlerischen, sondern auch politischen Umfeld zum Teil bereits massiv aneckte, bereiteten die Beiden erst den Boden für einen Ludwig van Beethoven. Er bediente sich insbesondere in seinem Spätwerk einer Kompro-misslosigkeit und Eigenmächtigkeit, die entgrenzte Räume mit einer Vehemenz aufsucht, vor denen Franz Schubert immer wieder gerade noch zurückweicht, indem er mitten im Fluss zu solchen Ufern Brüche setzt. Emotionales lotet er allerdings voll aus, und das subkutan, also unter die Haut gehend.
Auf Beethoven und Schubert folgen in unserem Kulturraum in direkter, fortsetzender Linie Brahms und Bruckner. Längst schon hatte sich das einfache Volk aus solchen Komplexitäten ausgeklinkt und lief in Massen über zum damaligen „Popidol“ Johann Strauß. Der Konflikt auf der intellektuellen Ebene wurde zugleich erst richtig virulent: Den Anlass lieferte Richard Wagner bzw. seine ihm treu ergebene Anhängerschaft.
Gab es die „Wagnerianer“ erst infolge dieses Spannungsfeldes, in welchem Brahms und Bruckner gegeneinander ausgespielt wurden, oder gebärdeten sich die Anhänger Richard Wagners samt Familienclan von Anfang an so penetrant in ihrer Idolisierung des Meisters mit bereits untergründig bis offen zur Schau getragenem deutsch-nationalen wie auch bereits klar erkennbarem antisemitischen Gedankengut, dass der Musikphilosoph und Kritiker Eduard Hanslick als Anführer der damaligen Intelligenzia gar nicht anders konnte, als die viel intellektueller konstruierte, wenn auch mit ebenso hochgradiger Emotionalität ausgestattete Musik eines Johannes Brahms auf sein Banner zu heften?
Interessanterweise fällt die Positionierung Hanslicks und seiner Gefolgschaft in die Zeit eines technologischen und wissenschaftlichen Aufschwungs, der die heutige Lebensweise im mittel- und westeuropäischen Raum erst begründet hat, mit all ihren Vor- und Nachteilen. Auch wenn ein rückwärts gewandtes, versteinertes Kaiserhaus – gegen dessen Grundsätze sogar der eigene Kronprinz anzukämpfen versuchte und kläglich scheiterte – eine militaristisch tradierte Gesellschaftsordnung aufrecht zu erhalten trachtete, wo immer es gerade noch erzwungen werden konnte: Die neue Zeit mit ihrem aufklärerischen Gedankengut brachte einen Fortschritt nach dem anderen hervor, und dies in einem explosionsartigen Tempo, welches es bis dahin nur selten zuvor gegeben hatte.
Es blieb zwei kaum gegensätzlicher scheinenden Künstlerpersönlichkeiten vorbehalten, noch einmal alles das, was die Kunst-Musik samt ihrer bis dahin genuinen Entwicklung ausmachte, höchst eigenständig zusammenzufassen und zugleich neue Türen zu öffnen.
Ich meine damit nicht Arnold Schönberg, und auch nicht Josef Matthias Hauer. Beide – so sehr sie sich selbst als Wegbereiter und Türöffner für Neues sahen, und vor allem Arnold Schönberg es verstand, als eine Art Guru Geltung und somit die größere Beachtung und Bewertung zu erlangen – sind Vollender einer bereits unüberhörbaren Entwicklung hin zur Atonalität. Dissonanz und Konsonanz gleichzusetzen war nur ein letzter Schritt und keine zukunftsweisende Neuerung, auch wenn über viele Jahrzehnte dies so gesehen wurde und auch heute scheinbar von einer Mehrheit noch immer so eingeschätzt wird.
Mit den beiden gegensätzlichen Künstlerpersönlichkeiten im Bereich der Musik meine ich jedoch Gustav Mahler und Anton Webern! Gerade diese beiden Komponisten sind so gründlich missverstanden worden, dass einen die weiteren Entwicklungen nicht verwundern dürfen. Denn so grundsätzlich verschieden die Werke Mahlers und Weberns zu sein scheinen, so verwandt sind sie einander. Bei Mahler ist es offenkundiger, bei Webern hingegen sehr viel schwerer zu erfassen, dass die Musik beider Komponisten tief und viel umfassender noch als bei Schönberg in der Tradition abendländischer Musikentwicklungen wurzelt. Mahler und Webern gießen die über Jahrhunderte zu einer hoch komplexen Kunstform entwickelte Musik in neue Formen: Mahler strebt dem Makrokosmos entgegen (übrigens auch noch der junge Schönberg), Webern wendet sich antipodisch zu Mahler dem Mikrokosmos zu.
Gustav Mahler wurde lange nicht verstanden in seiner möglichst alle Grenzen, auch fallweise jene der Tonalität, sprengenden, ausufernden Lust am Gigantischen; selbst heute noch – und viele Interpretationen bezeugen dies leider – wird seine hochintelligente strukturelle Komponierkunst zu wenig berücksichtigt gegenüber der überbordend emotionellen Attitüde in beinahe allen seinen Werken.
Anton Weberns Musik wurde und wird aber noch viel weniger verstanden. Er sprengt – einem Steinbruch vergleichbar – das Vorhandene in kleinste Splitter und setzt sie neu zusammen. Das Material bleibt in sich zwar genuin, findet aber auf minimalem Raum komprimiert zu neuen Formen. Diese Musik ist in einem Maß verdichtet, dass sie uns so völlig anders anspricht als der viel gewohntere Blick hinauf zu den Sternen. Webern führt uns direkt hinein in atomare Strukturen. Das kann auch starke Emotionen auslösen, wenn man sich darauf einzulassen bereit ist. Anton Weberns Musik ist, wie ich es empfinde, so wie die von Gustav Mahler hoch emotionale Musik-Kunst.
Einerseits war man, wie schon angedeutet, seitens der geistigen Elite kaum mehr bereit, sich auf Hoch-Emotionelles einzulassen und hat auch Weberns emotionelle Komponente nicht wirklich erfassen können. Und auf Seiten der Verführer injizierte man das Volk lieber mit Sentimentalitäten der zumeist oberflächlichen Art; so nämlich konnte – und kann immer noch und immer wieder – ein reflektierendes, kritisches Denken weitgehend korrumpiert werden.
Doch auch nach dem Desaster eines weiteren Weltkriegs fand das für die nun erst recht notwendige emotional-intelligente, also auch moralische Weiterentwicklung der Menschheit so wichtige Nach- und Umdenken nur sporadisch, in nicht wirklich wirksamer Dosis, statt. Wie recht doch die berühmte Affenforscherin Jane Goodall hat, wenn sie konstatiert, dass die Entwicklung einer Moral bei der Menschheit deren anderen Entwicklungen weiterhin ziemlich hinterher hinkt...
Die einen wandten sich also verstärkt der Geschäftemacherei mit der Produktion von Musik-hülsen für „Musikteppiche“ allerorten zu, machten sich die Unlust zu gedanklichen Reflexionen einer breiten Masse zunutze, machten und machen es zu Geld.
Und die Anderen, Gebildeten, also die für alles scheinbar so offene Intelligenzia mit verständlicher Aversion gegen alles allzu Gefühlsbetonte, verrannte sich in intellektuelle Absonderlichkeiten, indem sie übersah, dass Technik und Forscherdrang eben auch nur ein Bestandteil eines Ganzen zu sein und es nicht alleine zu bestimmen hat.
Nur deshalb musste es zwangsläufig – die entsprechenden Vorgaben waren kulturell ja seit jeher vorhanden – zu dieser sonderbaren Abgrenzung zwischen sogenannter U- und E-Musik kommen. Mit Musik an sich hat das nämlich gar nichts zu tun. Hier prallen zwei divergente Weltanschauungen aufeinander: Beide Seiten haben – wie bei Aversionen gegen dem eigenen Kulturkreis fremde Weltanschauungen und Religionen, im Extrem dann bei Religionskriegen! – extreme Positionen eingenommen, aus denen heraus sie agierten und so manche noch immer agieren.
Obwohl einige der herausragenden Gruppierungen des ‚Pop’, wie die Beatles, Pink Floyd, The Cream, Jethro Tull oder die Dire Straits mit Mark Knopfler mitunter auch beherzt klas-sische Muster in ihre Musik einfließen ließen, allerdings der Tonalität verhaftet blieben, wurden und werden sie nur deshalb nach wie vor eher dem Kunsthandwerk zugeordnet, statt ihnen denselben Kunst-Status wie der E-Musik zuzuerkennen.
Die noch immer angewandte Minder-Bewertung solcher Musik (z. B. durch die AKM, wenn auch erfreulicherweise nicht mehr im musikpädagogischen Umfeld bis hin zu Musikuniversitäten) betrifft auch Formationen wie Led Zeppelin, Frank Zappa, Jimi Hendrix & Co., sogar auch die meisten Bereiche des Jazz sowie kreative Volxmusikanten à la Hubert von Goisern – zumindest, was seine experimentelleren Lieder angeht – oder Attwenger. Sogar Komponisten und Musiker der „Avantgarde“ wie Georg Friedrich Haas, Jörg Widmann, Olga Neuwirth oder sogar Friedrich Cerha scheinen sich inzwischen einen Deut um angebliche Vorgaben aus Donaueschingen oder Darmstadt zu scheren und lassen neue Musik entstehen, die dem noch immer hoch gehaltenen hyperintellektuellen Gehabe einfach den Rücken zukehrt; ihre Werke allerdings werden, weil als E-Musik-Komponisten bereits schubladisiert, durchweg höher bewertet als die zuvor Genannten.
Diese Abkehr vom allzu intellektuellen Gehabe begann übrigens bereits mit den Vertretern der sogenannten „minimal music“, allen voran mit Terry Riley, dessen Basis die Gamelan-Musik Javas war, und setzte sich fort mit dem sich in archaische Grundmuster liturgischer Historie einarbeitenden Arvo Pärt.
Anmerkung: Auch ein Alfred Uhl, Gottfried von Einem, Gerhard Wimberger, Thomas Daniel Schlee oder Alexander Müllenbach widersetzten und widersetzen sich einem scheinbar noch immer geltenden Diktat und werden daher mit Nichtbeachtung weitgehend abgestraft. Nicht so beispielsweise ein Benjamin Britten hierzulande: Er ist ja auch kein Hiesiger...
Heute, nach sich über Jahrhunderte und Jahrzehnte ziehender vielschichtiger Bemühungen um Offenheit und Unvoreingenommenheit dem pluralistisch sich entfaltenden künst-lerischen Ambiente gegenüber, stehen wir endlich an mit unserem Drang nach Schub-ladisierungen. – Ich sage endlich und verberge meine Freude darüber nicht.
Denn in Wahrheit ist es völlig egal, was als gewichtig, Richtung weisend und innovativ eingestuft wird. Dafür fehlt jedem von uns – ob Laie oder Fachmann – der Überblick. Vorvorgestern hinkte man einem absolutistischen Anspruch à la Schönberg auf die Erfindung neuer harmonischer Gesetzmäßigkeiten nach, vorgestern waren es Darmstadt und Donaueschingen, gestern Helmut Lachenmann und seine Epigonen, dazwischen immerhin ein György Ligéti mit seinen aus Clustern geformten Kompositionen, der die Meinungsbildner mit seinem großen Interesse für zentralafrikanische Polyrhythmen kurzzeitig immerhin ein wenig verunsichern konnte. Einen ebenso eigenwillig vergleich-baren Weg war vor ihm schon Igor Strawinsky gegangen, doch auch er verließ den scheinbar sicheren und bequemen Hafen eines höchst erfolgreichen Stils, der leicht zu einer „Masche“ hätte ausarten können, setzte sich mit Traditionellem auseinander, und damit einem zuweilen sogar verärgertem Kopfschütteln seiner bisherigen Bewunderer und Adepten.
Unabhängig von Begriffen und Zuordnungen frage ich mich schon immer wieder: Wie stehen wir selbst – und damit unserem Nachwuchs, unseren Schülerinnen und Schülern gegenüber – zu all den Musikformen, die einfach heutige Musik sind?
Wollen wir noch immer bewerten, was gute und weniger wertvolle Musik zu sein hat? Die Unterscheidung in U- und E-Musik war ja klar eine bewertende. Und das ist ja an sich auch zunächst nichts Schlechtes.
Nur: Wohin führen uns solche Werturteile?
Wenn sie postulierenden Charakter haben, dann direttissima in diktatorische Gefilde, ob wir das im Moment dann rechtzeitig wahrhaben wollen oder nicht.
Ich persönlich kriege zwar alle Zustände, wenn mir Techno, HipHop oder Rap aufgedrängt wird von Nachbarn oder irgendwelchen Möchtegern-Heinis, die mit ihren subwoofer-getunten Autos – die dadurch nebenbei bemerkt zu verkehrsuntauglichen Bomben werden – durch die Straßen kurven. Wobei das Grundproblem gar nicht einmal so sehr die User selbst sind, sondern die Erfindung solcher Tieffrequenz-Boxen für den privaten Gebrauch an sich, denn – und die solche Anlagen bedienenden Menschen haben meist gar keine Ahnung davon – je langwelliger eine Frequenz, desto weiter und ungehinderter kann sie sich ausbreiten. Selbst harmlose Gartenfeste oder sommerliche Tanzabende auf Campingplätzen beschallen mit dem alles, sogar Fenster und Mauern, durchdringenden tief-frequenten Bumm-Bumm der Baßlautsprecher zum Teil kilometerweit ihre Umgebung, abgesehen davon, dass inzwischen offenbar ohnedies alles, was tönt, sei es Sprache oder Musik, extrem verstärkt werden muss, ganz so, als ob die Menschen ohnedies schon halbtaub sind (manche sind es leider ja sogar in jungen Jahren schon wegen stundenlanger Disco-Besuche).
Aber: Auch das ist Musik, und auch sie ist zeitgenössisch, und wie! Mechanisiert wie die allermeisten Produktionsabläufe ob mit Tieren oder zukünftigem Plastikmüll, überdimensioniert und von einer Hast, die dem menschlichen Grundtonus mit all seinen Abweichungen von Normatierungen nicht entspricht, es sei denn, man ist der Meinung, dass der doppelte Herzschlag inzwischen unser Grundschlag geworden ist? Ich persönlich empfinde diese Art von Musik als „ultra primo“ (um einen modischen Begriff dafür gleich passend anzuwenden) und leider auch tendenziell faschistoid.
Das ist jedoch unter vielem Anderen nur ein Unfug; und es gibt deren viele, wie zum Beispiel die beinahe lückenlose Berieselung allerorts. Es gibt beinahe kein Lokal mehr, in welchem einem der angebliche Musikgeschmack des jeweiligen Besitzers angedient wird mit dem überhaupt nicht bewiesenen Argument, dass die Leut’ das halt so wollen, bis hin zur Autobahnraststättenkette Rosenberger mit ihrem schlimmsten Gedudel an funktionell erzeugter Musikhülse, worüber sich sogar Kellner beklagen; aber der Chef, also Herr Rosenberger himself – so die Aussage eines Kellners, den ich befragte – stelle die Anlage immer selbst nach, drehe sie lauter.
So etwas nenne ich – vier Jahrzehnte nach dem Musikologen Hermann Rauhe aus Hamburg – noch einmal schlicht „Umweltverschmutzung durch Musik“.
Also bedarf es doch Bewertungen? Ich meine Ja, aber unter der Bedingung, dass sie im Unterricht und in der Öffentlichkeit so aufbereitet werden, dass jeder (junge) Mensch die Möglichkeit erhält, selbst eine Werteskala sich erarbeiten zu können, wie immer sie auch ausfallen mag. Denn der Faktor Zeit ist dabei ebenfalls zu berücksichtigen: Zeit als wesentlicher Parameter für die Ermöglichung einer bestimmten Entwicklung bis zu deren Ausreifung spielt nämlich mehr Rolle, als wir meist anzunehmen bereit sind, auch wenn wir selbst – in den Medien bis hin zum Drängeln auf den Straßen – tagtäglich dagegen verstoßen.
Es ist letztlich alles eine Frage des Maßes und der Balance. Hierin sehe ich den Hauptgrund dafür, warum uns heute – nach immerhin 250 bis 300 Jahren! – die Musik jener Zeiten noch immer so tief berührt und fasziniert.
Den Nachbarn und die Öffentlichkeit marternden Subwoover-Freunden gegenüber muss Aufklärung über das Verhalten tiefster Frequenzen auf breiter und verständlicher Basis erfolgen. Den Gastbetriebs- und Warenhäuser-Verantwortlichen gehören massive Protestnoten mit wahrheitsgemäßer Befragung ihrer Kundschaft vor den Latz geknallt, denn viele Menschen, die das, was ihnen da an angeblicher Musik dargeboten wird, die sie zumeist nicht einmal wirklich wahrnehmen, brauchen Musikberieselung in Wahrheit gar nicht. Wenn also – was ja von den Herstellern und deren Kundschaft auch gar nicht verschwiegen wird – Musik welcher Art auch immer, und sei es Marschmusik, funktionell eingesetzt wird, um Menschen in welcher Weise auch immer gängeln zu können, ist das zutiefst undemokratisch und daher abzulehnen.
Das gilt übrigens auch für meine ehemalige Arbeitswelt ORF mit den unsäglich lauten und völlig unnötigen MuBed-Untermalungen (MuBed = Musikbett; so lautet der Fachbegriff!) sowohl bei Wetterberichten, als auch bei Verkehrsmeldungen und bei den Schlagzeilenverlesungen am Beginn der ZiB bis zu den Unterlegungen aufpeitschender Erregungsrhythmen bei Sendungen mit Wahlberichts-tabellen.
Damit bin ich am Ende meiner Überlegungen und Betrachtungen; querfeldein, weil es leider so ist, wie es ist. Und zu Musik-Verweigerern wollen wir doch nicht werden, nur weil uns die Musikhülsen-Industrie bis hin zu einem widerlichen André Rieu permanent verführt oder gar vergewaltigt, oder?
Sollten wir uns nicht endlich besinnen und Musik wieder zu dem werden lassen, was sie genuin, also ihrem Ursprung nach, ist?
Eine Lebensäußerung, zu der wir Menschen fähig sind, auch als nonverbales Kommunikationsmittel, zum Beispiel im gemeinsamen Tanz;
als Verheißung eines Zustands, der Alltäglichkeiten hinter uns sein lässt, uns bereichert mit Unsagbarem;
als in Klänge gegossene Lebensphilosophien und Weltbilder;
all dies in verschiedenartigsten Formen, die uns erheben über uns sonst Beschäftigendes, Ausbeutendes, Besorgendes.
Auch unsere „zeitgemäße“, „heutige“ Musik kann das bewirken, wenn sie in ihrem Pluralismus an möglichen Ausdrucksformen unser Wesen, ob als Selbst-Schöpfende oder auch als nur Zuhörende, zu berühren vermag. Sie wird sich immer wieder ändern, denn auch die Menschheit ist Veränderungen unterworfen.
Und so hoffe ich gemeinsam mit Ihnen, die Sie diese große Verantwortung übernommen haben, jungen Menschen das weite Feld an Musik zu vermitteln, dass dies Ihnen immer besser gelingen möge. Es geht heute vornehmlich darum, die Vielfalt heutiger menschlich-musikalischer Ausdrucksformen einzutauschen gegen einen soziologisch-verformten und verführerischen Einheitsbrei, der Ihnen zunächst von den meisten schon etwas älteren Kindern und Jugendlichen Tag für Tag begegnet.
Laden Sie möglichst junge, für eine Stilvielfalt offene Musikerinnen und Musiker, Komponistinnen und Komponisten immer wieder ein, mit Ihren Kindern zu experimentieren, die beinahe unbegrenzte Welt der Klänge zu entdecken und daraus Eigenes zu formen. Und scheuen Sie keine Mühe, wenn das schulische Beamtentum Ihnen mit seinem leider noch immer oft vorherrschenden Gehabe aus monarchistischen Vorzeiten fast alle Vorfreude vergällt.
Ich weiß, die meisten unter Ihnen kennen das alles schon und wissen Bescheid um den Wert solcher persönlicher Begegnungen mit Künstlern. Es geschieht nur noch meist zu selten, weil die Hürden für die Ermöglichung einer Durchführung oft unüberwindbar scheinen.
Und noch etwas, was ich für fast noch wichtiger erachte: Machen Sie sich selbst auf und besuchen Sie möglichst viele Aufführungen jedweder Art mit Musik von Heute. Arbeiten Sie damit an Ihrer eigenen Offenheit allem gegenüber, was klingt, und reflektieren Sie es kritisch. Und wenn es Ihnen nicht gefällt, dann gefällt es Ihnen eben nicht. Dieses Grundrecht hat jede und jeder Zuhörende, was übrigens gar nichts damit zu tun hat, dass Sie es halt nicht verstehen. Musik-Verstehen spielt sich auf sehr verschiedenen Ebenen ab. Dafür gilt nur das Gesetz des eigenen Wesens, der gemachten Erfahrungen, des Sich-Einlassen-Könnens.
Denn wie schon Friedrich Cerha einmal gesagt hat: dass man „endlich die Vorstellung abbaut, dass jedermann die gängige Musik versteht. Mir ist bis heute nicht klar, was viele Leute unter Musikverstehen verstehen.“