Oh ihr Engel und anderen Himmlischen!
CD-KRITIK / HILDEGARD VON BINGEN
31/10/13 Engel auf Höhenflug: Zweieinhalb Oktaven Tonumfang hat das Responsorium „O vos angeli“, ein beinahe neun Minuten währender Lobgesang, der ziemlich singulär dasteht im 12. Jahrhundert.
Von Reinhard Kriechbaum
Die Interpretation der Gesänge der Hildegard von Bingen sind an einen Ensemble-Namen geknüpft: Sequentia. 1982 haben Barbara Thornton und Benjamin Bagby erstmals eine Auswahl von „Symphoniae“ der Heiligen auf CD eingespielt, der – unter Leitung der 1998 verstorbenen Barbara Thornton – weitere fünf CDs folgen sollten. Der damals letzte Block an Gesängen war Hildegards geistliches Spiel „ordo virtutum“ gewesen. Seither sind zwei Anthologien erschienen, „Visions of Paradise“ (2009) und eine weitere Blütenlese 2011.
Dass Hildegard von Bingen im Vorjahr einen vatikanischen Karriereschub bekommen und in den Rang einer Kirchenlehrerin erhoben worden ist, hat vielleicht den Ausschlag gegeben, dass Benjamin Bagby mit dem nun (nach 25 Jahren in Köln) nun in Paris heimische Ensemble den Kreis geschlossen hat. „Celestial Hierarchy“ ist der Abschluss, kontemplative Gesänge zu Ehren jener, die es also in die Nähe des christlichen Gottes Gebracht haben: Patriarchen und Propheten, Apostel, Märtyrer, Bekenner. Und nicht zu vergessen auf die Engel.
Mit dieser CD ist das Gesamtwerk der Hildegard von Bingen – so es denn musikalisch wirklich unmittelbar auf sie zurückgeht – von „Sequentia“ auf acht Veröffentlichungen dokumentiert (freilich ist manches unterdessen vergriffen): zwölf Stunden Musik, 77 „Symphoniae“ und eben die Gesänge des „Ordo virtutum“.
Ideologische Grabenkämpfe wollen wir hier außen vor lassen: Es ist ja so, dass Hildegard mit der himmlischen Hierarchie zugleich die Gesellschaftsordnung ihrer Zeit festgeschrieben hat. Hildegard verstand sich als Benediktinerin durchaus als einer besseren Gesellschaftsschicht zugehörig und reklamierte irdische Standesunterschiede auch in Gottes Ordnung hinein. Sie spiegle sich eben bis in die Himmels-Sphären hinein. So ketzerische Beobachtungen sind derzeit, da die Kirchenlehrerin für so gut wie alles als leuchtendes Beispiel hergenommen wird (von der Medizin über biologische Nachhaltigkeit über theologische Argumentationskraft bis zur erfindungsreichen Dicht- und Komponierkunst), nicht so recht populär. Eine heilige Dame als Musterbeispiel für benediktinisches Herrenmenschen-Denken – das klingt in den Ohren mancher Frommen geradezu als Häresie…
Lassen wir uns lieber ein auf die von der Damengruppe „Sequentia“ so unendlich virtuos ausgeführten Melodiegirlanden. Hildegards Gesänge sind (Jahrzehnte nach ihrem Tod) in einer Vorform auf dem Weg zur Hufnagelnotation auf vier Notenlinien mit farblich hervorgehobenen C- und F-Linien notiert worden. Was man aus diesen Zeichen noch auf der Basis des Neumensingens herauslesen kann, lässt der Leiter von „Sequentia“, Benjamin Bagby, die Sängerinnen mit Verve umsetzen. Man bewegt sich, was die Semiologie (Lehre von der Ausführung der Neumen) und ihre Anwendung auf die Noten der Hildegard von Bingen anlangt, unterdessen auf einem recht guten Erkenntnisstand. An Temperament fehlt es „Sequentia“ nicht, und schon gar nicht an vokaler Geläufigkeit. Virtuosität und theologische Betrachtung schließen einander glücklicherweise nicht aus.