Das aufgesparte hohe C
CD-KRITIK / ALLEGRI / MISERERE
02/09/11 Von 1638 bis 1860, also über zwei Jahrhunderte lang, war das „Miserere“ des Gregorio Allegri das Karwochen-Paradestück in der Sixtinischen Kapelle. Keine Mozart-Biographie, in der nicht berichtet würde, dass der Vierzehnjährige das Stück in der Karwoche 1770 nach dem Gehör niedergeschrieben habe.
Von Reinhard Kriechbaum
Mozart hat es sich damals zwei Mal angehört. Am Mittwoch zuerst, danach hat er’s gleich aufgeschrieben. Zwei Tage später, am Karfreitag, war Mozart abermals in der Sixtinischen Kapelle, zum Korrektur-Hören. Nun, so groß ist die Herausforderung für Mozart nicht gewesen. Das Allegri-„Miserere“ ist ein vergleichsweise überschaubarer Falsobordone-Satz.
Warum die Begehrlichkeiten vieler Vatikan-Besucher gerade auf dieses Stück fielen: weil die päpstlichen Kapellsänger all ihre Verzierungskunst investierten. Eine hübsche Anekdote: Der Habsburger Kaiser Leopold I. hat vom Papst eine Abschrift erbeten, sie auch bekommen – aber nach der Wiener Aufführung soll er sagenhaft enttäuscht gewesen sein und geargwöhnt haben, der Papst habe ihm ein anderes Stück zukommen lassen. Es fehlten eben die Verzierungen …
Auf dieser CD ist das zweichörige Allegri-“Miserere“ natürlich der abschließende Höhepunkt. Der Chor zwei singt jeweils Varianten, die andere Nach-Noten- oder Nach-dem-Gehör-Abschreiber angefertigt haben. Jene mit dem legendären hohen C stammt von Pietro Alfieri (1801-1863). Aufs hohe C muss man in dieser Wiedergabe fast bis zum Schluss, also gute zehn Minuten warten, genießt dafür einige Abwechslung.
Ein wunderbares Musik-Konvolut für die Kar-Tage hat Tomás Luis de Victoria für die Cappella Sistina (so heißt nicht nur die Privatkapelle des Papstes, sondern – nach dem Raum – auch sein Chor) geschaffen: drei mal drei Klagelieder des Propheten Jeremiae, wundersame Spätblüte des Palestrina-Stils, Musterkompositionen des A-cappella-Stils allesamt. Das ensemble officium singt sie in etwas kleinerer als historischer Besetzung (bis 1625 hatte die Cappella Sistina 24 Mitglieder, danach 32). Aber auch zu zwölft eine runde Fülle, beispielhaft homogen und im Volumen der Einzelstimmen bestens tariert.