Trauermusik aus Nebenflüssen
CD-KRITIK / JOHANN NIKOLAUS BACH
19/04/11 Über 200 Jahre war „Bach“ das Synonym für Musiker in Thüringen und Sachsen. Also muss wo Bach draufsteht, nicht unbedingt immer Johann Sebastian und die „Fränkische Linie“ drin sein. Neben den Söhnen Wilhelm Friedemann, Carl Philipp Emanuel und Johann Christoph Friedrich oder den Enkeln Wilhelm Friedrich Ernst und Johann Christian gibt es noch weitere Stammbaum-Verästelungen.
Von Horst Reischenböck
Im „Alt-Bachischen Archiv“ finden sich etwa auch Johann Sebastians Großonkel Johann Christoph, dessen Sohn Johann Nikolaus wiederum in Jena wirkte. Daneben gibt es mit Heinrich Bach und dessen Söhnen Johann Christoph und Johann Michael zwei Generationen der Arnstädter Linie.
Dann wäre noch Meiningen. Mit dem Herzogtum werden meist die Namen des Dirigenten und Brahms-Apostels Hans von Bülow und seines Nachfolgers Richard Strauss verknüpft. Zwei Jahrhunderte zuvor jedoch - und damit nahezu zeitgleich mit Johann Sebastian - war dort jedoch Johann Ludwig Bach Kantor und Kapellmeister: auch ein Schöpfer von Kantaten, Motetten und verschollenen Opern. (Von ihm gibt es übrigens immer noch Nachkommen.)
Sein gewichtigstes überliefertes Opus von Johann Ludwig ist eine „Trauermusik“. Nicht aus etwa aus sakralem Anlass zu Ostern entstanden, sondern für seinen verstorbenen Dienstherrn Ernst-Ludwig I. von Sachsen-Meiningen geschrieben. Damit steht diese Trauermusik zwischen Henry Purcells beeindruckender „Funeral Music for Queen Mary“ und der „Sorgemusik över Gustav III“ des Mozart-Zeitgenossen Joseph Martin Kraus am Schwedischen Königshof. Mit einem gravierenden Unterschied: Des Herzogs Leben blieb von Schicksalsschlägen nicht verschont, und so sah er sein Erdendasein letztlich nur in „Ketten und Banden“. Er dichtete Kantatentexte, die auch Johann Sebastian Bach vertonte, wählte seinen eigenen Leichentext und schrieb Strophen dazu. Diese zu vertonen war 1724 dann eben Johann Ludwigs Aufgabe.
Das Aufführungsmaterial erstellte Christoph Lehmann für den WDR Köln, der 1994 eine erste Aufnahme mit der Rheinischen Kantorei und Das Kleine Konzert unter Hermann Max produzierte (vier Jahre später als CAPRICCIO-CD 10 814 veröffentlicht).
Im Vorjahr folgte die Aufnahme des Deutschlandradios in der akustisch prädestinierten Jesus-Christus-Kirche Berlin-Dalehm: mit dem RIAS Kammerchor, seinem Dirigenten Hans-Christoph Rademann, sowie den Originalklangspezialisten der Akademie für Alte Musik. (Beiden CDs liegt übrigens Peter Wollnys Einführungstext nahezu identisch bei.)
Die Neuaufnahme ist im Vergleich schon vom Einstieg an nuancierter, spannungsgeladener und eben auch durchhörbarer. So werden die ersten Worte „O Herr“ vorerst solistisch angestimmt, ehe sie vom Chor übernommen werden. Der Chor ist übrigens geteilt in zwei Chöre, denen zu den jeweiligen Schlüssen fulminante Steigerungen anvertraut sind. Das macht auch zwei Orchester mit einer überaus farbig, abwechslungsreich und detailliert illustrierend eingesetzten Instrumentenpalette: neben den Streichern sind vier Flöten, zwei Oboen, Fagott, Laute und zwei Orgeln aufgeboten. Im „Tertia Pars“, wo es um himmlische Klänge geht, gesellen sich strahlend drei Trompeten plus Pauken hinzu: wahrscheinlich das Maximum des damals zu Meiningen Verfügbaren.
Dem exzellenten Vokalquartett sind ausgewogen Aufgaben zugeteilt: Sopranistin Anna Prohaska von den Salzburger Festspielen her als Zerlina und in Luigi Nonos „Al gran sole carico d’amore“ bekannt, Altistin Ivonne Fuchs, Tenor Maximilian Schmitt, als Tamino am Salzburger Landestheater in Erinnerung, und Andreas Wolf, Bass-Bariton, überzeugen stimmlich und stilistisch. Grandiose fast achtzig Minuten - absolut wert, sie mehrfach anzuhören!