Die „Zehnte“ pur und aufgefüllt
CD-KRITIK / MAHLER-SYMPHONIEN
16/12/10 Das erste Gustav Mahler-Jahr (aus Anlass seines 150. Geburtstags) hat erstaunlicherweise gar nicht so viel an neuen Aufnahmen gezeitigt. Bleibt abzuwarten, was uns die 100. Wiederkehr des Todestags 2011 bescheren wird. Drei Einspielungen aber sind durchaus bedenkens- und hörenswert.
Von Horst Reischenböck
Zunächst einmal „Altmeister“ Pierre Boulez, der auch kommenden Sommer bei den Salzburger Festspielen Mahler dirigieren wird. Seinem mit verschiedenen Orchestern gestalteten Zyklus aller Sinfonien fügte er im Februar das fis-Moll-Adagio der Zehnten live hinzu. Wie nicht anders von ihm gewohnt, analytisch, akribisch textgetreu und vom Cleveland Orchestra in der dortigen Severance Hall auch klanglich perfekt umgesetzt. Nur den Kopfsatz allein, da Boulez, eigenen Worten nach, alle Versuche, den Torso zu vervollständigen, in Bezug auf etwaige polyphone Strukturen als „entsprechend dürftig“ ansieht.
Dafür ergänzt Boulez seine Aufnahme um ein Dutzend an Liedern nach Gedichten aus „Des Knaben Wunderhorn“. Magdalena Kožená singt ausdrucksvoll „Wer hat das Liedlein erdacht“, „Rheinlegendchen“ oder „Lob des hohen Verstandes“. Maskulin spannt Christian Gerhaher abwechselnd als Kontrast dazu den Bogen von „Der Schildwache Nachtlied“ über „Revelge“, „Des Antonius zu Padua Fischpredigt“ über das „Lied des Verfolgten im Turm“ bis zum „Tamboursg’sell“. Beweis auch dafür, dass und wie er inzwischen das Erbe Dietrich Fischer-Dieskaus übernommen hat.
David Zinman ließ es sich nicht verdrießen, seinem bedenkenswerten Zyklus aller Sinfonien mit dem Tonhalle Orchester Zürich durch die unvollendete hinterlassene Zehnte zu vervollständigen. Einmal nicht in der durch Kollegen wie Riccardo Chailly oder Sir Simon Rattle geläufigen Aufführungsfassung der Skizzen durch Deryck Cooke, sondern bewusst als Kontrast dazu rekonstruiert vom US-Amerikaner Clinton A. Carpenter. Der orientierte sich zur „Auffüllung“ der Leerzeilen subtil an Vorgängerwerken wie dem „Lied von der Erde“, was im Vergleich ein doch opulenteres Klangbild erzeugt, zu dem man sich in einer derart überzeugt -überzeugenden Ausführung auch gerne verleiten lässt.
Aus heimischer Sicht wiederum ist der Einsatz des Wiener Jeunesse Orchesters zu würdigen. Zu seiner 20-Jahr-Feier erarbeitete der aus ganz Österreich stammende junge Nachwuchs Mahlers 3. Sinfonie in d-Moll. Der klanglich ausgewogene Mitschnitt vom Auftritt im Oktober 2007 im Konzertsaal des Slowakischen Rundfunks, Pressburg, beflügelt durch Dirigent Herbert Böck, ist nicht allein bloß als tönender Beleg für erfolgreiche instrumentale Arbeit an unseren Musikuniversitäten und Konservatorien zu werten (grenzübergreifend sind auch beispielsweise Gäste aus Pécs, Bratislava und sogar Utrecht mit von der Partie). Der wohl durchdacht in sich schlüssigen Interpretation, zu der auch die Vokalisten entsprechend beitrugen, eignen absolut Referenz-Meriten.