Telemann auf dem Zigeunerwagen
CD-KRITIK
16/09/10 Die Verbindungslinie von arabischen Spieltechniken in die europäische Alte Musik ist unbestritten, wird von Interpreten aber auch gerne überstrapaziert. Über die Jahrhunderte war die Chance für (mittel)europäische Musiker unvergleichlich höher, einem reisenden Zigeunerclan zu begegnen als auch nur einem Ur-Urenkelschüler eines arabischen Musikers.Von Reinhard Kriechbaum
Sollte, was die Kultur der Sinti und Roma angeht, ein unendlich weites Feld denkbarer, ja wahrscheinlicher Einflüsse noch so gut wie unbeackert sein? Wäre nicht in der Alten Musik eine "Time of the Gipsies" angesagt?
Darüber jedenfalls kommt man unwillkürlich ins Nachdenken angesichts dieser CD, die erstaunliche Musik anbietet und nicht minder überraschende Querverbindungen erschließt. Da hat also ein mutiges Grüppchen von Aufführungspraktikern, der Flötist Matthias Maute und sein unterdessen in Kanada ansässiges Ensemble Caprice, zuerst bei Vivaldi nach einschlägigen Einflüssen gesucht (die CD ist 2007 herausgekommen). Nun folgt Telemann, wieder in Verbindung mit Musik, die man aus einer Sammlung von rund 350 Zigeunermelodien aus dem Jahr 1730 destilliert hat. Die Handschrift heißt nach dem Fundort des Konvoluts, Uhrovska in der heutigen Slowakei. Bei Telemann ist ein solches Unterfangen noch viel nahe liegender, denn von ihm gibt es nicht nur eine "Sonate à la gitane", sondern auch Originalzitate, die Zigeunermusik betreffend. Der junge Telemann startete seine Hofkapellmeisterkarriere von Südpolen aus, in Polen und Mähren sind ihm Zigeuner natürlich nicht nur als fliegende Händler und Kesselflicker, sondern auch als Musiker untergekommen.
Ein sehr eigener Sound. Telemanns "Grillensymphonie" hat die eigenwillige Besetzung Piccoloflöte, Traversflöte, Oboe, Chalumeau und zwei Kontrabässe. Da lässt es Matthias Mauthe schon recht handfest rumpeln. Es gibt aber genau so viel Feines: Der langsame Satz aus Telemanns e-Moll-Quartett für Querflöte, Violine, Gambe und Basso continuo enthält melodisches Material, das der Melodie "Mostek mame ustressenj" aus der Uhrovska-Sammlung verblüffend ähnelt. Eine weiteres Zigeunerstück, "Kobassu Nota", wirkt in der Fassung auf alten Instrumenten so täuschend höfisch-barock, dass man mit den Ohren wackelt, wenn das Ensemble Caprice das e-Moll-Konzert für Blockflöte, Querflöte und Streicher gleich drauf mit geradezu folkloristischer Wildheit angeht. Eine Gigue für Solovioline wiederum zeigt im direkten Vergleich, dass auch vom Spielgestus her allerhand Ähnlichkeiten herauszuholen sind.
Das klingt reizvoll fremdartig, lebt natürlich auch vom starken Idiom der Zigeunermusik, das sich Matthias Mauthe und sein Ensemble mit Ambition zu eigen gemacht hat und hinüber rettet in manche improvisierte Überleitungen und Anschlüsse bei den Telemann-Werken. Haydn war jedenfalls nicht der erste, der neugierig seine Zigeuner-Nachbarschaft belauscht hat.