Neue Ideen für die Passion
CD-KRITIK / SELLE / JOHANNESPASSION
26/03/24 Was hätte er sonst noch tun können, als am eigenen Nachruhm zu basteln? Als Musikdirektor aller vier Hamburger Hauptkirchen war Thomas Selle (1599-1663) ja sozusagen ab 1641 Generalmusikdirektor der Stadt – und als solcher eine Autorität in der protestantischen Kirchenmusik weitum.
Von Reinhard Kriechbaum
Hamburg war damals, während und nach dem Dreißigjährigen Krieg, die Handelsmetropole schlechthin. Während halb Europa in Schutt und Asche sank, war die neutrale Hafenstadt gleich wichtig für alle Kriegsparteien. Dort war also gut und kultiviert zu leben und auch gut Musik zu hören. Vor allem auch Musik von Thomas Selle.
Das Musikleben in Hamburg muss ansehnlich gewesen sein. 1657 ist so etwas wie ein musikalischer Veranstaltungskalender veröffentlicht worden, mit dessen Hilfe Bürger und Gäste der Stadt sich orientieren konnten über die Musikangebote, vor allem auch in den Kirchen – also in Thomas Selles musikalischem Imperium.
Zu dieser Zeit war Thomas Selle schon emsig damit beschäftigt, sein musikalisches Oeuvre zu sichten, zu ordnen, die ihm wichtigen Werke aufs Neue abzuschreiben, teils zu überarbeiten, und als Vorlass der Hamburger Stadtbibliothek zu übereignen. Kaum ein Komponist hat so gründlich auf das Weiterleben seiner Musik hingearbeitet – und doch ist sie dann recht rasch der Wahrnehmung entschwunden und auch in neuerer Zeit wenig beachtet worden.
In die Musikgeschichte eingegangen ist Thomas Selle, weil er als erster in die Passionserzählung Einlagensätze eingebracht hat. Damit war er also Wegbereiter für jene Art der Passionsvertonungen, wie sie Bach zur Vollendung gebracht hat. 1643 entstand die Johannespassion mit Intermedien. Antonius Adamske hat sie mit dem Göttinger Barockchor und dem Göttinger Barockorchester aufgenommen. Man wird bei dieser Passion stark erinnert an einen unmittelbaren Zeitgenossen von Selle, Heinrich Schütz, und dessen Geistliche Konzerte. Die Evangelistenworte werden mit zwei Gamben und Generalbass begleitet, jene von Christus mit zwei Violinen. Die Pilatus-Partie wird effektvoll von Zinken umspielt. Im Vokalausdruck bleibt Selle moderat, bei einem eher reduzierten Tonumfang. Im Affekt jedenfalls deutlich hinter den Schütz-Passionen, obwohl diese ohne Orchester auskommen.
Die Zukunft sollte trotzdem jener Art von Passion gehören, die Thomas Selle eingeführt hat. Von den Intermedien darf man sich noch nicht individuelle, gar pietistische Kommentare wie dann im Hochbarock erwarten. Es sind Paraphrasen auf Bibeltexte, etwa auf Jesaja (Fürwahr, er trug unser Krankheit), auf das Passionsgeschehen unmittelbar (Mein Gott, warum hast du mich verlassen) oder auf das bekannte Kirchenlied O Lamm Gottes unschuldig.
Dantes Diwiak (Tenor) ist der Evangelist, dessen Part gelegentlich noch an die Art der gregorianischen Rezitation erinnert, aber doch auch immer wieder gute rhetorische Optionen bereit hält. Janno Scheller (Baß) singt den Christus, Markus Brutscher (Tenor) den Petrus. Für Soliloquenten und Turba-Chöre sieht Selles Johannespassion maximal acht Stimmen vor – genau in dieser kleinen, feinen Besetzung kommt diese Einspielung aus.