Der erste dunkelhäutige Komponist
CD-KRITIK / VICENTE LUSITANO
10/03/23 Wenn immer wieder einmal eine Stimme des beängstigend dichten A-cappella-Gefüges sich harmonisch aufreizend mit ihren Nachbarn reibt, kommt einem die Musik des Gesualdo da Venosa in den Sinn. Aber der kam erst 1566 zur Welt – da war Vicente Lusitano möglicherweise gar nicht mehr am Leben.
Von Reinhard Kriechbaum
Jedenfalls ist dieser Komponist, dessen Namen auch eingefuchste Barockmusik-Hörer vermutlich noch nicht gehört haben, nach 1561 ins historische Nirvana entschwunden. Da taucht sein Name das letzte Mal auf. Der katholische Priester war zum protestantischen Glauben übergetreten, hatte geheiratet und sich am Württembergischen Hof in Stuttgart in Dienst nehmen lassen. Mehr weiß man nicht – sein Leben endete so nebulos, wie es begonnen hatte.
Dabei könnte Vicente Lusitano zumindest ob eines Umstands eine gewisse Prominenz für sich verbuchen: Er war nach derzeitigem Wissensstand der erste dunkelhäutige Komponist der Musikgeschichte. Ein Mulatte wahrscheinlich, mit einer schwarzafrikanischen Mutter und einem portugiesischen Vater. Theoretisch wäre dieser „Makel“ mit der Priesterweihe aus der Welt geschaffen gewesen, doch offenbar blieb ihm eine kirchliche Karriere versagt. Lusitano heißt übersetzt übrigens „Portugiese“.
Ein denkbar schlecht dokumentiertes Leben, das wohl so wenig geradlinig verlief wie der Kontrapunkt in seiner Motettensammlung Liber primus epigrammatum. Aus dem dürren biographischen Wissen über ihn: Er stand in Rom in Diensten des portugiesischen Botschafters am Heiligen Stuhl, als Musiklehrer dessen Sohnes. Für 1551 ist ein heftiger Disput unter römischen Musikern überliefert, denen Lusitanos Regina coeli entschieden zu wagemutig erschien.
Aus einem musiktheoretischen Werk, Introduttione facilissima et novissima, einer 1553 veröffentlichten Schule für improvisierten Kontrapunkt, stammt jenes Werk, für das Vicente Lusitano heutzutage einigermaßen bekannt ist: In der singulären Motette Heu me, Domine schrauben sich die Stimmen geradezu tollkühn chromatisch auf- und abwärts. Der Weg zu Gesualdo scheint vorgezeichnet.
„The Marian Consort“ bietet auf dieser CD eine Blütenlese geistlicher Motetten. Gerade weil dieses solistisch besetzte Ensemble dynamisch so wundersam ausbalanciert und homogen singt, gelingt es, die kleineren und größeren Irritationen in der Stimmführung, die mit unerwarteten harmonischen Reibereien einhergehen, unaufdringlich nachzuzeichnen.