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Tarzan oder Tristan?

HÖRVERGNÜGEN / LANG LANG / IGOR LEVIT

04/11/22 Extrem unterschiedliche Alben veröffentlichten dieser Tage die Star-Pianisten Lang Lang und Igor Levit. Der eine erinnert sich mit Musik aus Disney-Filmen an die eigene Kindheit. Der andere lotet in transzendentalen Klangwelten Tod und Schmerz zwischen Wagner und Mahler aus. Ist Platz für beide extremen Programme am aktuellen CD-Markt?

Von Andreas Vogl

Einer der Gründe, warum ich mich seit frühester Kindheit für klassische Musik interessiert habe, war der Disney-Film Fantasia. Walt Disney hat mit seinem dritten abendfüllendem Kino-Zeichentrickfilm 1940 ein Meisterwerk geschaffen, indem er damals Leopold Stokowski und das Philadelphia Orchestra einen ganzen Soundtrack mit klassischen Werken einspielen ließ und die Musik bebildert hat. So tanzen phantastische Figuren zu Tschaikowskys Nussknacker-Suite und Ponchiellis Tanz der Stunden. Die Beethoven’sche Pastorale spielt mit Pegasus und Pan im Olymp und Stravinskys Le sacre du printemps ist eine gruselige Dinosaurier-Urzeit-Collage lange vor Jurassic-Park. Für ein Kind toll anzusehen. Durch das wiederholte Hören prägten sich die essentiellen Stücke der Musikgeschichte in das musikalische Gedächtnis ein und ich bekam Lust auf mehr Klassik. Kommerzieller Irrsinn und gefälschte Interpretation? Wenn so mancher gefeierter Regisseur oder Choreograf heutzutage eine ähnlich kontroverse Inszenierung aufbietet, muss man sich doch die selbe Frage stellen, oder?

Zeichentrick, oder neudeutsch Animation, fasziniert Kinder wie Erwachsene. Das unerschöpfliche Portfolio aus dem Hause Disney wartet mit allseits bekannten Figuren auf – in Filmen wie Das Dschungelbuch, Die Schöne und das Biest, Tarzan oder neuerdings Encanto und Frozen. Die dazugehörige und unablässige Musik sind eingängige Lieder, vom Konzern in gute Popmusiker-Hände wie Elton John oder Phil Collins und vor allem Komponisten wie den oscar-prämierten Alan Menken, vor kurzem erst Gast im Wiener Konzerthaus, gegeben. Diese Songs nun als Klassiker zu bezeichnen grenzt ob ihrer Kommerzialität wohl fast an Frevel. Dennoch. Arrangiert mit Orchester zu üppigem Klang sind manche Melodien einem populären Ohrwurm-Hit eines der großen E-Komponisten gar nicht so unähnlich. 

Der aus der Kommerzialisierungswelle der klassischen Musik Anfang der 2000er Jahre entsprungene Star-Pianist Lang Lang scheint somit prädestiniert, sich dieser Form von Musik zu widmen. Auf seinem neuesten Album klingt das Intro zu Beauty and the Beast nach einem satten Rachmaninov Klavierkonzert. The Bare Necessities aus dem Dschungelbuch gleicht einem Gershwin Medley. Und wenn in Mulan die chinesische Röhrenspießlaute erhu erklingt und zu Tarzan Andrea Bocellis, leider ziemlich abgenutzte, Tenorstimme ertönt, bedient man perfekt das bei Plattenfirmen beliebte undefinierte Crossover-Publikum. Lang Lang ist selbst vor kurzem Vater eines Sohnes geworden und begibt sich, all diese Filme nun erneut ansehend, wieder in die eigene Kindheit zurück. Da haben ihn einst Tom und Jerry mit der „Liszt-Parodie“ inspiriert. Ob man mit dem von ihm konzipierten Album The Disney Book nun ebenfalls junge Leute erfolgreich zum ernsthaften Genuss der großen Klassik bekommt, sei dahingestellt. Der Deutschen Grammophon reicht wohl der Album-Absatz.

Dass bei der Konkurrenzfirma Sony ein solcher zufriedenstellend mit der neuen CD von Igor Levit erreicht wird, ist zu hoffen. Tristan ist eine Projekt Doppel-CD, die es musikwissenschaftlich und intellektuell gewaltig in sich hat, ganz konträr zu Lang Lang’s Album steht und kein wirklich kommerzielles Publikum anspricht. Muss es auch nicht. Igor Levit, für tief gehende Programme bekannt, vereint darauf drei, bereits in Salzburg präsentierte Werke, die sich rund um Wagners Tristan drehen. Heuer spielte er Zoltan Kocsis Arrangement von Vorspiel zu Tristan und Isolde und Isoldes Liebestod (der Klaviersatz ähnelt jenem von Franz Liszt, ist aber, finde ich, noch inniger). Bereits in den Jahren zuvor präsentierte Levit bei den Festspielen diese Werke. Etwa das selten gespielte Stück für Klavier, Tonband und Orchester Tristan von Hans Werner Henze. Ein autobiographisch inspiriertes Stück, in dem u.a. Ingeborg Bachmanns Tod verarbeitet wird, auf der CD mit dem Gewandhausorchester Leipzig unter Franz Welser-Möst aufgenommen). Sowie den unglaublich schwer zu spielenden, für Klavier solo bearbeiteten Adagio-Satz aus Gustav Mahlers unvollendeter Zehnter Sinfonie durch Ronald Stevenson. War der berühmte Tristan-Akkord das Fenster zu neuen Klangwelten im 19. Jahrhundert, so beschritt Mahler in der Neunten, aber vor allem mit dem Adagio der Zehnten zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Welt der neuen Musik. Ein dissonanter Schmerzensschrei-Akkord überschreitet beeindruckend musikalische Grenzen und erinnert dabei verblüffend an jenen von Wagner. Intensiv und ohrenöffnend hier am Klavier von Igor Levit gespielt. Abgehoben und in neue Welten führend. Ebenfalls in Salzburg auf dem Programm standen die Harmonies du soir aus den Transzendentalen Etüden Franz Liszt, auf der CD als drittes Werk Wagner und Mahler ergänzend und höchst passend zur Seite gestellt. Wahnsinn, welch pianistisches Können. Wahnsinn, welch intellektuelles Aufspüren von musikalischen Querverbindungen. Tiefer kann Musik nicht gehen.

Ist scheinbar seichte Unterhaltungs-Klassik von Lang Lang mit seinem spaßmachenden und pseudo-virtuosen Disney-Soundtrack der Kindheit nun weniger wert als der hochintellektuell-intensive – um nicht zu sagen depressive – Klangrausch von Igor Levit? Der klassische CD Markt versucht momentan eine Grätsche mit gut verkäuflichen Konzept-Alben und neuen Werken bzw. Komponisten. Denn die „Klassiker“ sind alle längst schon so oft und so gut eingespielt, dass es keine neuen Beethoven-Sonaten oder Chopin-Etüden braucht. Disney oder Tristan? Beides erzeugt beim Hören Emotionen. Und das soll Musik ja schließlich. Oder?

Lang Lang: The Disney Book. Royal Philharmonic Orchestra u.a. Deutsche Grammophon 485 7420
Igor Levit: Tristan. Gewandhausorchester Leipzig, Welser-Möst. Sony 19439943482

 

 

 

 

 

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