Niederländer-Sound im alten Mailand
CD-KRITIK / ENSEMBLE ODHECATON
24/12/18 Galeazzo Maria Sforza wäre am Stephanitag 1476 doch lieber nicht in die Kirche gegangen. Dort erwarteten ihn die Häscher. Der Mailänder Herzog hat den Dom nicht lebend verlassen. Für Loyset Compère (ca. 1545-1518) hatte das die ungute Folge, dass er sich einen neuen Dienstgeber suchen musste, denn die Witwe verkleinerte die Sänger- und Musikerschar.
Von Reinhard Kriechbaum
Die noch junge Hofkapelle in Mailand war damals eine der angesehensten in Europa. Der zwar wenig umgängliche, aber kunstsinnige Galeazzo Maria Sforza ließ sie von namhaften Musikern aufbauen, in vorderster Reihe durch die Frankoflamen Loyset Compère und Gaspar van Weerbeke (ca. 1545 - ca. 1517). Das Vokalensemble Odhecaton (Ltg. Paolo da Col) und gleich mehrere Instrumentalensembles (La Pifaresca, La Reverdie, Ensemble Pian&Forte) lassen auf dieser CD Marien-Motetten dieser beiden Komponisten und einiger Kollegen wie Alexander Agricola und Johannes Martini hören. Gesungenes und Intabulierungen von Vokalwerken geben neben effektvollen Trompetenaufzügen von Heinrich Lübeck ein sehr lebhaftes, abwechslungsreiches Bild von der Musik damals am Mailänder Hof.
Das eigenwilligste Werk ist wohl Loyset Compères Missa Galeazescha (benannt eben nach dem Herzog Galeazzo Maria Sforza). Es ist keine Vertonung der üblichen Texte vom Kyrie bis zum Agnus, sondern eine Sammlung von prachtvollen Motetten, deren Texte alle auf die Gottesmutter bezogen sind. So etwas würde man im Proprium der Messe erwarten, Compère schrieb aber zu den Stücken „Loco Gloria“, „Loco Credo“ und so weiter, wollte sie also dezidiert an Stelle der Messtexte stehen haben. So ist das auch tatsächlich im Mailänder Dom musiziert worden: Ein Abgesandter des Papstes hörte es an und hielt seine Verwunderung schriftlich fest. Es herrschte wohl auch in der Kirchenmusik Narrenfreiheit in der Stadt des exzentrischen Herzogs.
Die zwölf Sänger des Ensemble Odhecaton führen stilkundig vor, dass man damals in Mailand absolut auf der Höhe der Zeit war. Loyset Compère hatte beste Kontakte zur Kapelle am französischen Hof (der er zeitweise angehörte), Gaspar van Weerbeke mischte auch in jener von Philipp dem Schönen in Burgund mit. Beide unterhielten auch beste Kontakte zur päpstlichen Kapelle. So waren sie mit Ockeghem und Pierre de la Rue ebenso vernetzt wie mit Josquin Desprez. Eine international ausgerichtete hohe Qualität. Mit rhythmischem Verve wird das nachgezeichnet, durchaus spekulierend mit „höfischer“ Klangpracht, nicht nur im Bad von Schalmeien und Posaunen.