Geschichten von Flucht und Fremdbestimmung
CD-KRITIK / JORDI SAVALL
13/11/18 Gelegentlich hält man CDs in Händen, die gar nicht sosehr wegen der Musik oder deren Interpretation von Interesse sind. Viel aufschlussreicher im Fall eines Programms, das Jordi Savall zwei ausgewachsenen Messkompositionen aus der Epoche des Spanischen Erbfolgekrieges gewidmet hat
Von Reinhard Kriechbaum
Was für eine politische, auch kulturpolitische Großwetterlage bestimmte die Epoche? Was für Geschichten und Schicksale stehen hinter den Komponisten? Und schließlich: Wie sieht es heute aus in der Region?
Das Heute: Die damals gegen die Habsburger siegreichen Bourbonen regieren immer noch (mit Unterbrechungen) in Spanien. Und Katalonien hat sich damals auf die falsche Seite geschlagen, viele im Lande waren damals nicht weniger unglücklich als heutige Katalanen. Der Landsmann Jordi Savall hält sich nobel heraus aus dem politischen Streit. Aber mit einer effektvoll donnernden orchestralen Batalla Imperial von Johann Caspar von Kerl und Juan Bautista José Cabanilles erinnert er daran, dass sein Volk damals gekämpft hat für Verbleib seines Habsburger-Königs. In einem anonymen Volkslied, textlich umgemodelt von einem Weihnachtslied zu einem konkreten politischen Statement, jubiliert eine ganze Vogelschar darüber, dass der vermeintlich richtige Herrscher, Karl III., dort wieder an Land geht. Ein anderes Volkslied aus der Epoche ist jetzt sogar offizielle Hymne Kataloniens („Catalunya triumfant“) und wird auf der CD sowohl instrumental als auch vokal vorgestellt. Und schließlich ein Lamento, entstanden nach dem Sieg und der Thronbesteigung des Franzosen Philipp V.
Das sind Zimelien, nur Füllwerk auf den beiden CDs, die zwei kapitalen Messen gelten: Francesc Valls ist hinlänglich bekannt als einer der bedeutenden Barockkomponisten der iberischen Halbinsel. 1702 entstand seine „Missa Scala Aretina“. Es gab beste Kontakte der Kathedralmusik von Barcelona (wo Valls wirkte) und der Kapelle der spanischen Habsburger, was manche stilistische Beeinflussung, etwa durch die Mehrchörigkeit eines H.I.F.Biber, erklärt. Die 35minütige Messe, in elfstimmigem Vokal-Cinemascope, tut ihre Wirkung. Den habsburgischen Musikern ist es schließlich schlecht ergangen, sie mussten sich nach neuen Brötchengebern umsehen. Auch Valls hatte offen mit der alten Herrschaft sympathisiert, büßte seinen Job als Kathedral-Kapellmeister ein und hatte fortan einen schweren Stand als Musiker.
1704 war die Messe à deux Choeurs von Henry Desmarest (1661-1741) uraufgeführt worden. Dieser Komponist war auf der Flucht – aber nicht aus politischen Gründen. Er war in Paris aus Gründen seines Lebenswandel in Ungnade gefallen. Desmarest hatte eine junge Dame geschwängert, die dann ins Kloster gesteckt wurde. Von dort entführte sie der Komponist, und das war seiner Reputation am Hof Ludwig des XIV. nicht dienlich. So landete Henry Desmarest schließlich bei Philipp V. in Barcelona. Die Messe für zwei Chöre und zwei Orchestergruppen ist zwar fast doppelt so lang, aber bei weitem nicht so vielgestaltig wie das Werk von Valls: eine solide kirchliche Repräsentationsmusik. Und entsprechend repräsentativ und stilistisch lauter wird sie von Savall und seinen Ensembles umgesetzt.
In excelsis Deo. Au temps de la guerre de Succession d'Espagne 1701-1714. Francesc Valls: Missa Scala Aretina; Henry Desmarest: Messe á deux Choeurs. La Capell Reial de Catalunya, Le Concert des Nations, Ltg. Jordi Savall. AliaVox, 2 CDs, VSA9924 – www.alia-vox.com