Textsicherheit und Urvertrauen
LESEPROBE / ADLER / FRETTEN
13/06/23 „Schneid und Gefühl finden in diesem exzellenten Roman derart zusammen, dass er jede Faser elektrisiert. Auch deshalb ist das Buch eine einzigartige Erfahrung“, hieß es in der ZEIT über den zum Österreichischen Literaturpreis 2022 nominierten Roman Fretten von Helena Adler. – Hier eine Leseprobe.
Von Helena Adler
Jeder Tag roch nach Abenteuer, überall gab es Refugien und Schlupflöcher, keine Mauer war gerade, kein Boden eben. Fantastische Wesen urinierten aus ihren Mündern von den Dachtraufen herab. Ich stellte mich darunter, um zu wachsen. Ich war nicht hungrig, ich war lebensgierig. Ich gedieh, und ich wuchs so schnell, dass mir dabei ständig die Knochen brachen. Man faschte meine Arme, umwickelte die Haut, strich Wasser über das weiße Netz und wartete, bis alles hart wurde, bis diese zweite Haut verknöcherte. Jeden Gips trug ich wie eine Trophäe.
Ich war anspruchslos und frosthart, und ich ging immer schwanger mit neuen Geschichten, die ich mir ausdachte. Nie war es still, außer beim ersten Schnee. Kanalisationen und Tunnelsysteme durchzogen unser Land, unterhalb der Moorwiese erstreckte sich ein Löschteich im Erdinneren, auf dem ich mit einem alten Boot fuhr und Fährmann spielte. Wann immer ein Tier starb, warf ich mir einen Umhang über und ruderte den toten Körper von der einen zur anderen Seite, weil ich dachte, ich könnte seine Seele so sicher ins Totenreich geleiten. Der Himmel hing weit herab, und was über ihm war, wusste ich nicht, ich ahnte nur, dass es weit war.
…
Die Mutter zitierte ständig aus der Bibel und brachte uns damit auf die Psalmen. Der Vater erzählte Geschichten aus der griechischen Mythologie, veranschaulichte den Stammbaum der olympischen Götter praxisnah anhand der Namen, die er den Kühen zuordnete und mit Kreide auf kleine Tafeln schrieb, die hinter ihnen an der Holzvertäfelung angebracht waren. Und er selbst sah aus wie Poseidon, wenn er mit dem Traktor über die Wiesen donnerte und den Inhalt des Güllefasses übers Feld spritze. An guten Tagen nannte er die Mutter Demeter, denn diese Form der biologisch-dynamischen Landwirtschaft galt in seinen Augen als Königsklasse der Agrarkultur. Er ergatterte ausrangierte Särge von der nahegelegenen Mülldeponie, zersägte sie und lagerte Kartoffeln darin oder baute daraus ein Hochbeet für Radieschen und Rettich. Ich glaubte alles, was mein Vater mir auftischte, und hielt die bare Münze noch für Gold. Der Urgroßvater brachte mir seltene Wörter bei, die wir hegten wie bedrohte Tierarten. Und die Mutter sagte seltsame Gedichte auf, sobald es dunkel war, aber erst, nachdem sie die Heilige Schrift verstaut hatte, weil sie nicht wollte, dass ihr profanes Wort in Gottes Ohr drang. »Ich will dir was erzählen, von Hutsche-Butsche-Bählen«, flüsterte sie, während sie mit ihrem Zeigefinger mein Gesicht umkreiste, »aber sei mir ja verschwiegen, sonst werde ich dich bei der Nase kriegen.« Das I von verschwiegen zog sie dabei so in die Länge wie meinen Zinken, den ich von ihr geerbt hatte. Sie konnte alle Reime und Gedichte auswendig aufsagen und ihre Textsicherheit gab mir Geborgenheit.
Das Urvertrauen steckte einem in allen Knochen, und mochten sie noch so morsch sein. »Eppan wird’s da oben auch noch geben«, sagte die Urgroßmutter immer, sobald ich Zweifel an etwas hegte. »Eppan wird’s schon richten. Eppan schaut auf uns.« Eppan war weiß Gott was, aber all ihre Hoffnung und ihr Glaube steckte in diesem Wort.
Mit freundlicher Genehmigung des Jung und Jung Verlages.
Helena Adler: Fretten. Roman. Verlag Jung und Jung, Salzburg 2022. 192 Seiten, 22 Euro, auch als e-book erhältlich – jungundjung.at