… und ich hab ja gesagt ja ich will Ja
100 JAHRE ULYSSES
01/02/22 Am Ulysses kann, muss, darf man scheitern. Immer wieder. Lustvoll. Ein ganzes Lese-Leben lang. Das irrsinnige Monumentalwerk, dieser monumentale Irrsinn wird am 2. 2. 2022 hundert Jahre alt. Sein Autor 140.
Von Heidemarie Klabacher
Wer den Ulysses von James Joyce gelesen hat, so richtig von vorn bis hinten, möge aufzeigen und nicht rot werden. Den Beginn – am Anfang ist das Rasierzeug – kennt auch die Schreiberin dieser Zeilen recht gut. Weit drüber hinausgekommen ist sie nie. Da gibt es nichts zum Rotwerden. Das „Gilbert-Schema“, welches durch die Irrfahrt eines einzigen Romantages navigieren helfen soll, wurde oft und ohne wesentlichen Erkenntnisgewinn studiert: „Organ: Niere.“ Ja eh. Aber die einzige Niere im Buch, die zum Beispiel ich kenne, ist gleich in aller Früh angebrannt. Lesehilfe ist das keine. Und so scheitert man über die Jahre und Jahrzehnte vor sich hin und stolpert irgendwann über das Hörbuch. 31 CDs sind kein Lapperl an Lebenszeit. 38 Stunden und 9 Minuten. 2289 Minuten.
Was hört man nicht über die Obszönitäten im Ulysses: Einige wurden bisher tatsächlich lokalisiert und auch kapiert. Über die Blasphemien: Allein die erste Seite ist ein plausibler Grund zur Exkommunikation des Autors und seiner Figuren.
Was hört man nicht über den komplexen Aufbau. Der Ulysses von Joyce folgt der Odyssee des Homer: Einiges davon erschließt sich gut. Wobei ich persönlich finde, man tut der griechischen Königstochter Nausikaa schwer unrecht, wenn man sie mit der banalen irischen Maid Gerty McDowell parallel setzt. Einiges will dagegen gar nicht einleuchten. Was haben die Rinder des Sonnengottes mit Empfängnisverhütung, Geburtshilfe und der Entwicklung der englischen Prosa zu tun? (Wobei hier „nur“ von der Übersetzung ins Deutsche von Hans Wollschläger die Rede sein kann. Da klingt die entsprechende Passage übrigens wie Heimito von Doderers „Mittelhochdeutsch“ in den Dämonen.)
Man hört und liest vieles über den Ulysses.
Wovon man aber nie hört und liest – von den klügsten Leuten in den kompliziertesten Analysen nicht – das ist über die Poesie dieses Werks. Sprachklang.Wohllaut. Sprachbilder. Das Prosamonster ist pure Poesie! Diese lässt einen die gleiche CD immer wieder von vorne abspielen und weitere Lebensminuten reich werden. Man wünscht sich geradezu eine Aufnahmespur im Hirn, um sich das alles zu merken. Wie gerne möchte man frei werden vom dicken Buch, den vielen CDs.
Wie ganz einfach „schön“ die Joyce'sche Sprache ist, davon hört und liest man nichts.
Und wovon man übrigens auch nichts hört, ist die soziale Sprengkraft des Textes: Erschütternd etwa die pure brutale Armut der Schwestern von Stephen Dedalus. Die Erinnerung von Dignam junior an den Vater, den ollen Säufer, der an diesem Tag beerdigt wird, geht zu Herzen. Leopold Bloom ist ja vor allem mit sich selbst – und der am Nachmittag dieses 16. Juni wieder einmal statthabenden Untreue seiner Frau Molly befasst (Blazes Boylan!) – aber auf seinem ruhe- und sinnlosen Irrweg durch Dublin nimmt er doch auch einiges außerhalb seiner selbst wahr.
„Diesen Text muss man laut lesen“, wird einer der 44 Sprecher der Hörbuchfassung im Booklett zitiert. Noch besser, sich den Text vorlesen lassen. Das Buch in Griffweite ist trotzdem zu empfehlen. Wenn man CDs auf Seiten umlegt – man lernt, sich zurechtzufinden und zwischen den Medien punktgenau zu navigieren – liegt das Lesebändchen derzeit im letzten Viertel des Buchs. Irgendwann einmal wird Ulysses wenn schon nicht „ausgelesen“ doch „ausgehört“ sein.
Allein die Namen! Allein die Namen sprechen für das Hörbuch! Den des „armen armen KLEINEN Dignam“ (†) hätte man ja noch halbwegs getroffen. Die sanften Laute J.J. O’Molloy, er ist ein wenig erfolgreicher Rechtsanwalt, nimmermehr. Aberhunderte Namen von Menschen, gefühlt seitenweise allein von Pfarrern oder Jesuiten, aber auch von Mördern, Henkern, Barfrauen oder Hebammen, Nutten nicht zu vergessen, von Straßen oder Gebäuden sind Poesie pur. Nicht nur das sanfte Säuseln der Schwestern Eiben... So schräg, verrückt, gestört all diese Hinrichtungs-, Sadomaso- oder romantisierenden Sonnenuntergang am Strand-Phantasien sein mögen, ganz zu schweigen von Redaktionskonferenzen: Geschildert sind sie alle in purer Poesie.
Was diese Leute so aufführen, während Leopold Bloom am 16. Juni 1904 (an dem Tag hat der Autor in echt seine Frau erstmals zum Essen ausgeführt) innerlich monologisierend durch Dublin geht und sich Wege kreuzen (genaueste Stadtpläne für jede Episode gibt es, helfen aber auch nicht weiter) – also was diese Figuren so aufführen, während etwa unter Nöten ein Kind zur Welt gebracht und die Geschichte der Geburtshilfe diskutiert wird, das ist verwirrend, oft verstörend, immer unterhaltsam und nie ohne Witz.
Der Innere Monolog von Molly Bloom, in dem es besonders ungehörig zugehen soll, kommt auf den CDs erst. Aber ich kenne die letzten Zeilen, weil ich sie mal gelesen habe. Oben im Titel stehen sie. Was zu den Leitmotiven führt. Es scheint einige zu geben im Ulysses. Eins davon ist die gefühlt alle 87 Seiten auftauchende italienische Vokabel „voglio“ (Mozart kommt übrigens oft vor). Warum aber Blooms Frau, eine Sängerin, ein so einfaches Wort nicht aussprechen können sollte? Am Schluss tut sie es – in Erinnerung an den Heiratsantrag Leopold Blooms.